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Ein Bett im Hotel Alcatel

Das Berliner Kabelwerk schreibt schwarze Zahlen. Trotzdem will die französische Konzernmutter den Laden schließen. Die Arbeiter besetzen aus Protest ihre Fabrik    ■ Von Richard Rother

Ping, pong, ping – Tischtennis in der Fabrikhalle. Kaum ein anderer Laut ist zu hören, eine fast unheimliche Stille. Ping, pong, ping, pong – pang, pang, pang, pang ... Der Ball hüpft auf den Boden, kullert über den Beton, rollt in Richtung einer riesigen Maschine. Daniel Petrault rennt ihm hinterher, bückt sich, versucht die weiße Kugel zu greifen. Vergeblich, der Ball verschwindet unter einem Fließband. Petrault richtet sich auf, dreht sich, lächelt: „Schöne Sporthalle hier, oder?“ Das H ist nicht zu hören, obwohl der Franzose fast perfekt Deutsch spricht.

Der 38-jährige Maschinenführer ist Besetzer, Fabrikbesetzer. Zum ersten Mal in seinem Leben. „So etwas muss jeder mal mitgemacht haben“, sagt Petrault. Seine Stimme hallt im Raum. So etwas – das ist ein Arbeitskampf, bei dem es um seine Existenz geht, um den Erhalt von Arbeitsplätzen. Seit fast zwei Wochen sorgt die Belegschaft im Berliner Alcatel-Kabelwerk dafür, dass alle Bänder still stehen. Grund: Die Pariser Leitung des französischen Konzerns will das Werk dichtmachen und die Produktion nach Frankreich verlagern, obwohl das Werk seit Jahren schwarze Zahlen schreibt. Rund 140 Arbeitsplätze würden nach den Konzernplänen am Standort Berlin wegfallen.

Das versteht hier niemand, Petrault schon gar nicht. Die Franzosen hätten viel für Berlin getan, meint der ehemalige Zeitsoldat. „Alcatel macht jetzt alles kaputt.“

Die Fabrik im Berliner Arbeiterbezirk Neukölln, Ende 1991 von Alcatel übernommen, ist bereits das vierte Werk, das der Elektronik-Konzern in Berlin aufgekauft und nach einiger Zeit dichtgemacht hat. Petrault fällt die richtige Vokabel auf Anhieb ein: „Marktbereinigung“.

Die Ostdeutschen können ein Lied davon singen. So mancher von der Treuhand privatisierte Betrieb wurde zu Beginn der Neunzigerjahre von einem westdeutschen Konzern übernommen, bis zur Unkenntlichkeit zusammengestutzt oder ganz abgewickelt – auch, um potentielle Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Die Belegschaften versuchten sich zu wehren: mit Demonstrationen, Besetzungen, gar Hungerstreiks. Jetzt, fast zehn Jahre nach der Wende, haben auch Westberliner diese Aktionsformen übernommen, so wie Daniel Petrault.

Seit mehr als 20 Jahren ist Petrault in Deutschland, 19 Jahre davon arbeitetet er bei Alcatel. Seit einer Woche ist er Besetzer, ein 24-Stunden-Job. Plakate müssen gemalt, Schrippen gekauft, Besucher empfangen werden. Petrault macht das Spaß – noch. Der Mann mit dem Brad-Pitt-Bart ist ausgeruht. Bis vergangenen Sonntag war er mit seiner Frau im Dänemark-Urlaub. Als er wiederkam, war die Überraschung groß – obwohl Petrault schon vor der Reisewusste, dass Aktionen geplant waren. Er hat nicht lange gezögert, nachdem er seinen Anrufbeantworter abgehört hatte: „Meine Tasche war ja noch gepackt.“ Seine blauen Augen lachen.

Für Petraults bunten Schlafsack geht die Saison in der Betriebskantine weiter. Sieben, acht Penntüten liegen auf dem Steinboden ordentlich nebeneinander. Andere Besetzer schlafen auf Paletten in der Halle, auf Stühlen im Büro oder auf den Rückbänken ihrer Autos. Die Kantine ist geschlossen, das Hotel Alcatel geöffnet – rund um die Uhr. Knapp 30 Besetzer gehören zum harten Kern. Sie schieben Wache am Tor, fegen den Hof, plaudern mit Passanten. Manche waren noch gar nicht draußen, außer zum Einkaufen.

Einer von ihnen ist Christian Skrilec. Der Kabeljungwerker ist seit der ersten Stunde der Besetzung dabei und gönnte sich erst einmal Ausgang: zum Champions-Leage-Spiel von Hertha BSC. Skrilec ist wütend. Er sitzt auf einer Biergartenbank im Hof. Vor sieben Jahren wurde der 29-Jährige von Alcatel übernommen, jetzt droht die Entlassung. Seine Berufsaussichten in Berlin sind miserabel: „Wer braucht schon einen jungen, dynamischen Kabelwerker?“ Der junge, unrasierte Mann grinst Petrault an und gießt sich einen Kaffee ein. Petrault zieht an seiner Zigarette. Wenn er seinen Job verliert, „kann ich nur noch Leistungsdienst machen“, sagt der Franzose. „Dienstleistung heißt das“, verbessert ihn Skrilec.

Für Kabelwerker ist das ein Schimpfwort. Sie haben wenig Lust, einen Job als Wachschützer oder Fensterputzer anzufangen. Für zehn Mark brutto die Stunde. „Ich kämpfe hier so lange, bis mein Arbeitsplatz gesichert ist“, sagt Petrault. Seine Worte gehen im Lärm unter. Ein Flugzeug donnert über das Werksgelände; die Fabrik liegt in der Einflugschneise des Airports Tempelhof. Auch der soll geschlossen werden – allerdings erst in drei Jahren.

Die Stimmung auf dem Hof ist gelassen. Vier türkische Kollegen spielen Okey, Rommé als Brettspiel. Ein Mädchen schiebt ihren Kinderwagen im Kreis herum. Jemand trägt einen Korb Äpfel aus dem Garten heran. Ein paar Männer bereiten den Grill vor: Heute abend gibt es Currywurst und Köfte. Auf engstem Raum – knapp die Hälfte der Beschäftigten kommt nicht aus Deutschland – leben jetzt Menschen verschiedenster Herkunft zusammen. Petrault wundert sich nicht, dass das klappt. „Wir sind jetzt eine große Familie.“

Die Alcatel-Familie trauert. An zwei Laternenpfählen wehen schwarze Fahnen im milden Septemberwind auf Halbmast. In der Vergangenheit haben sich die Kabelwerker auf vieles eingelassen, um den Rationalisierungsforderungen der Geschäftsführer zu genügen: Das Urlaubs- und Weihnachstgeld wurde halbiert, ein flexibles Vierschichtsystem eingeführt. Ergebnis: Im Vergleich zum Vorjahr hat sich der Gewinn des Werkes verdoppelt. Petrault ärgert sich: „Als Dank kriegen wir einen Tritt in den Hintern.“

Petrault würde auch nicht nach Frankreich gehen, wenn ihm ein Job am neuen Standort in Fumay, nahe der belgischen Grenze, angeboten würde. Nichts gegen die Kollegen dort. Würde Fumay geschlossen, könnten sich die Berliner freuen. Schuld seien die Bosse. Denen möchte Petrault gern einen Besuch abstatten. Nächste Woche könnte es so weit sein. Wenn die Konzernleitung bis dahin nicht einlenkt, wollen die Berliner nach Paris fahren. Zum Demonstrieren. „Wir behalten unsere Jobs – on garde les boulots. Eine andere Sprache verstehen die nicht.“

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