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Zum Pfeifkonzert von Berlin nach Paris

Berliner Alcatel-Besetzer demonstrieren vor der Zentrale des französischen Elektronikkonzerns. Der Vorstand will das Neuköllner Kabelwerk zum Jahresende schließen    ■ Aus Paris Richard Rother

Eine Trillerpfeife um den Hals, einen Sticker ans Revers, noch einmal kurz mit der Bürste das Haar geglättet – und schon geht's raus aus dem Bus: aufs Pariser Pflaster zum Demonstrieren, 56 Rue de la Boätie, Hauptsitz des Elektronikkonzerns Alcatel. 48 Beschäftigte des Berliner Alcatel-Kabelwerkes, darunter drei Frauen, stürmen aus dem gemieteten Reisebus, beginnen ein gellendes Pfeifkonzert, bauen Lautsprecher auf, entrollen Transparente: „Alcatel Berlin: acheté et refermé“ – aufgekauft und dicht gemacht, steht darauf.

Die Berliner Kabelwerker sind sauer. Seit zwei Wochen halten sie ihre Fabrik im Arbeiterviertel Neukölln besetzt; jetzt haben sie sogar die beschwerliche Reise nach Paris in Kauf genommen, um den Chefs die Meinung zu sagen, zu zeigen, zu trillern. Der Alcatel-Vorstand will das Berliner Kabelwerk zum Jahresende schließen – obwohl es schwarze Zahlen schreibt und die Auftragsbücher voll sind. Die Produktion soll aus Kostengründen nach Frankreich verlagert werden. Damit würden 140 Jobs in Berlin wegfallen.

„Unser Protest richtet sich nicht gegen unsere französischen Kollegen“, ruft der Betriebsratsvorsitzende Wolfgang Klose mit erregter Stimme gegen den Pariser Straßenlärm an. „Wir lassen nicht zu, dass Alcatel ein Werk nach dem anderen in Berlin aufkauft und schließt“, spricht er seinen Kollegen aus dem Herzen. Die Kabelwerker trillern, jubeln, klatschen.

Zehn Polizisten, Pistole und Knüppel am Gürtel, bewachen das schmiedeeiserne Eingangstor. Von innen sichern mehrere Wachschützer die Türen des sechsstöckigen Gebäudes im schicken achten Arrondissement im Pariser Westen. Der Herbstwind wedelt ein paar braune Kastanienblätter durch die Luft. Es beginnt, in Strömen zu regnen. Den Kabelwerkern scheint das nichts auszumachen. „Das ist ja kein Urlaubstrip hier“, sagt einer. 15 Stunden zuvor sind sie in Neukölln in den Reisebus gestiegen. Vor dem Werkstor winken Frauen und Kinder im Mondlicht zum Abschied, manche Kollegen haben Tränen in den Augen – für sie ist kein Platz im Bus. Der Berliner IG-Metall-Chef Arno Hager sorgt im Bus für Ordnung: „Ihr türkischen Kollegen, schaut noch mal nach, ob ihr alle eure Pässe dabei habt.“ Haben sie. „Nicht, dass das ein Rabattmarkenbuch von Mutti ist“, sagt Hager. Alle lachen.

Selahattin Korkut hat es sich gemütlich gemacht, den Kopf an ein Kissen gelehnt. Der 52-jährige Maschinenführer war noch nie in Paris. Auf die berühmte Metropole kann er sich kaum freuen. „Es gibt schönere Anlässe, dahin zu fahren“, sagt er. Seit 27 Jahren arbeitet er in dem Kabelwerk, das Alcatel Ende 1991 kaufte. Sollte er jetzt entlassen werden, sieht es für den Mann mit den grauen Haaren schlecht aus. Mehr als 250.000 Industrie-Arbeitsplätze sind in der Hauptstadt seit der Wende abgebaut worden.

Zwar sind rund 100.000 Jobs im Dienstleistungssektor entstanden, doch die nützen Korkut wenig. „In meinem Alter hab ich keine Chancen mehr.“ Traurig blickt er durch den Bus. Seine Kollegen essen mitgebrachte Oliven aus Tupperware-Büchsen, dazu Sesambrot. Chips und Baklava werden durch die Reihen gereicht. Alkohol ist tabu. „Wir sehen morgen früh schon schlimm genug aus“, sagt Klose.

So schlimm sehen sie dann gar nicht aus, als die Kabelwerker vor der Alcatel-Zentrale demonstrieren. Nur durchnässt. Nach einer halbe Stunde haben sechs von ihnen Glück. Sie dürfen ins Trockene und ihre Forderungen beim Vorstand vorbringen. Derweil verteilen die anderen Flugblätter in französischer Sprache an die Passanten. Die Pariser greifen die Zettel und eilen im Regen weiter. Ein paar französische Gewerkschafter schenken den übermüdeten Berlinern Kaffee ein. Unbeteiligt verrichtet ein schwarzer Straßenfeger seinen Dienst; bekleidet mit einer knallgrünen Uniform kehrt er Cola-Dosen durch den Rinnstein.

Nach knapp zwei Stunden kommt die Verhandlungsdelegation zurück. „Uns wurden die altbekannten Folien aufgelegt“, ärgert sich Klose. Lautstarke Buhrufe hallen durch die Rue de la Boätie. In den nächsten Tagen wolle der Vorstand neue Zahlen vorlegen und vielleicht mit den Besetzern verhandeln, berichtet Klose. Enttäuscht und wütend ziehen die Berliner ab. „Wir kommen wieder“, rufen sie.

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