Der Übermensch fährt Rad

Wortfetzen ballen sich zu Sperrfeuer:“ In Jörg-Uwe Albigs Debütroman „Velo“ wird ein Fahrradbote zum Terminator. Mit den Mitteln der postmodernen Kriegsführung zieht er in die Schlacht gegen die große Stadt Berlin. Die Realität heißt Jugoslawien  ■   Von Christoph Rasch

Jetzt kommt ein Sprung“, sagt Jörg-Uwe Albig. Er blickt seine Zuhörer an, lächelt – und liest weiter. Es kommt kein Sprung. Erst einmal geht es nur voran: Sein Roman „Velo“ ist eine sture, kraftstrotzende Tretmühle, sein Protagonist die perfekte Maschine: Enzberg, Fahrradkurier in Berlin.

Und stop: „Beim Lesen muss man einen Gang runterschalten“, empfiehlt der Autor. Und der 39jährige Jörg-Uwe Albig lässt sich auch selbst von der Geschwindigkeit seines Buches nicht einholen. Wenn er aus seinem Buch vorliest, bleibt der Tonfall des gebürtigen Bremers breit und behäbig. Albig entschleunigt: Der freie Journalist und ehemalige Art-Redakteur, der heute für Geo und Spex schreibt, hat keinen E-Mail-Anschluss, High-Speed-Kommunikation ist ihm zuwider, und zum Interviewtermin in der Ankerklause trottet er gemächlich durch die Neuköllner Einkaufsstraße.

Für „Velo“ hat Albig drei Jahre gebraucht, weitere zwei dauerte die Suche nach einem Verlag. Nein, verfilmt könne er sich seinen Debütroman überhaupt nicht vorstellen, sagt Albig, und man weiß nicht so ganz, ob er das ernst meint. Zumindest erklärt er, dass die simulierte Geschwindigkeit im Buch subtile Methode sei: Enzberg ist nicht Lola. Und „Berlin-Roman“? Auf jeden Fall ist das Leben in „Velo“ keine freundliche Baustelle, sondern Schlachtfeld und feindlicher Dschungel.

Das Leben: Fahrradkurier Enzberg und Krankenschwester Lolli, seine Freundin, sind zwei Velonauten, die sich in der großen Stadt verirrt er haben. Er aus kommt aus der Provinz West: Vechta, sie aus der Provin Ost: Jena. In Berlin wollen sie es ganz bestimmt nicht den „beautiful losers“ der Vergangenheit nachzumachen, den Aussteigern der 70er und 80er Jahre. Enzberg und Lolli wollen Helden werden: Kriegshelden in einer Umgebung, die „den Frieden nicht mehr aushalten kann und ihn eintauschen will“ – gegen was auch immer.

Dabei ist „Berlin eigentlich genau wie Vechta“, sagt Albig. Doch dann spricht er vom „imaginären Sog“ des Teilchenbeschleunigers Großstadt, der Berlin zum virtuellen Babylon mache. Verwischt zieht sie vorbei an den Protagonisten der Story. Enzberg geht auf in dieser Illusion, wird zur stromlinienförmigen Teilchenmasse: ein „Rudel Elektronen, das erst in beständiger, schneller Rotation ein Atom ergibt“. Schließlich wird er zum Terminator: Enzberger führt seinen ganz persönlichen Krieg – gegen die Stadt.

Der Großstadt-Guerillero zelebriert mit zeitgenössischer Lust am Bösen die faschistoide Selbstbeschwörung des radelnden Übermenschen. Wie eine funkgesteuerter Marschflugkörper sieht er sich durch die asphaltierten Canyons der Stadt jagen – eine intelligente, Satztiraden speiende Cluster-Bombe, vor der selbst der Leser den Kopf einzieht. Denn Enzberg und Erzähler machen gemeinsame Sache, „Wortfetzen ballen sich zu Sperrfeuer“, der Text wird unter Langzeitwirkung zum selbständig arbeitenden Tretlager. Die Figuren laufen einfach mit, die Geschwindigkeit produzieren andere.

Irgendwann verlässt Enzberg den fahrenden Zug. Enzberg verliert die letzte Bodenhaftung. Seinen Untergang nimmt der vom eigenen Tempo Berauschte nur aus den Augenwinkeln wahr. Er richtet den virtuellen Krieg solange gegen sich selbst, bis er im realen Krieg angekommen ist und sich einer kroatischen Söldnertruppe anschließen will.

Die Geschichte kippt, und in dem Moment ändert sich auch die Sprache. Akribische Sachlichkeit verdrängt die Hymne, der Geschwindkeitsrausch weicht dem Kater am Morgen danach: „Velo“ ist keine verspätete Ode an den von der Werbeindustrie zur Genüge ausgeschlachteten Underdog-Helden der Neunziger. Der Fahrradkurier ist nur eine Metapher für die Illusion der Großstadt, „Velo“ ein naiver literarischer Soundtrack zur „fröhlich-depressiven Großstadttristesse“, gegen die Albig derzeit in der Zeitschrift Spex polemisiert.

In den Erlebnis-Buchhandlungen der Hauptstadt steht „Velo“ natürlich trotzdem in der Abteilung „Berlin-Bücher“. Ein im wahrsten Sinne vorschnelles Urteil: Dem Klischee vom „rasanten Großstadtroman“ rennt „Velo“ einfach so davon.

Jörg-Uwe Albig: „Velo“. Volk & Welt. Berlin 1999. 160 Seiten, 28 DM.

Hnweis:Wie ein funkgesteuerter Marschflugkörper sieht Enzberg sich durch die Canyons der Stadt jagen