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■ „War es das wert?, fragten wir uns“
Die türkische Journalistin Nadire Mater hat 42 ehemalige Wehrpflichtige über ihre Erfahrungen in den türkischen Kurdengebieten befragt. Herausgekommen sind unspektakuläre Berichte, in der Ich-Form gehalten. Die Männer sprechen über die normale Angst im Gefecht, darüber, dass sie eigentlich in einem friedlichen Teil der Türkei ihren Militärdienst hatten ableisten wollen.
Ein Kleinhändler, Jahrgang 1966, Volksschulabsolvent, berichtet: „Noch nie im Leben hatte ich von einem Ort namens Tunceli gehört. ,Es ist sehr klein und liegt in einem Tal‘, hieß es. Wenn du den Ort nicht kennst, bist du natürlich aufgeregt. Die Ausbildung war außerordentlich schwer gewesen. Das ist keine normale militärische Ausbildung, sondern eine Vorbereitung auf den Guerillakampf. Wir hatten keine Ahnung davon. Ich hatte eigentlich in die Westtürkei gewollt.
An einem frühen Morgen begann das Gefecht. Es dauerte neun Stunden. Erst wurden sie von einem Sonderkommando umzingelt, dann sind wir dorthin gegangen, wo die Terroristen waren. Beim ersten Schusswechsel fiel einer von uns. Wir forderten sie auf, sich zu ergeben. Sie schossen zur Antwort.
Als der Brigadekommandeur hörte, dass ein Soldat gestorben war, sagte er: ,Setzt schwere Waffen ein.‘ Der gefallene Kamerad wäre entlassen worden. Nun fuhr er als Leiche nach Çorum (in seinen Heimatort) zurück. Sein Vater sagte: ,Statt als Gefreiter kommt er jetzt als Leiche zurück?‘ Er bekam einen Herzanfall und starb. Das ist natürlich schockierend.
Wir waren hungrig. Morgens waren wir dort hingekommen und hatten bis zum Abend gekämpft. Da denkt man nicht an Hunger. Es hieß, es seien zwölf Personen. Drei konnten fliehen, neun haben wir getötet. Dies Gefecht konnten wir drei, vier Tage lang nicht vergessen. Es ist sehr schwer, unter Feuer zu liegen.
Du vergisst alles, versuchst nur noch, am Leben zu bleiben. Militärische Grade zählen nicht (beim Militärdienst im Südosten), man wird zu Freunden. Es gibt auch keine Schläge. Wer aber behauptet, er sei während der Ausbildung nicht geschlagen worden, der lügt. Wenn einer etwas falsch macht, werden drei geschlagen. Wenn man sich auflehnt, hat man ohnehin keine Chance. Man denkt: ,Lass' ich mich halt schlagen, warte, bis es vorbei geht.‘ Als ich vom Militär zurückkam, haben sie aus Freude ein Schaf geschlachtet, ich war ein Held. Ich hatte mit 17 geheiratet, und als ich zum Militär ging, hatte ich ein Kind. Man sehnt sich natürlich sehr nach seinem Kind. Dass das zweite geboren war, habe ich erst drei Monate später erfahren. Ich war gerade in einer Militäroperation. Die Gefechte haben sich auf mich ausgewirkt. Noch drei, vier Monate, nachdem ich zurückgekehrt war, sagten meine Freunde: ,Du bist anders als früher.‘ Drei, vier Monate lang träumte ich noch von den Gefechten. Die Kugel hatte damals die Stirn des Soldaten durchbohrt und war hinten ausgetreten. Davon träume ich noch immer. Wenn man keine Vaterlandsliebe hätte, würde man solche Sachen nicht machen.
Es gibt keine Kurdenfrage, das behaupten nur manche. Es gibt keine Türken und Kurden. Wenn Öcalan nicht wäre, gäbe es auch dieses Problem nicht. Dahinter stecken sehr große Staaten, die beschützen ihn.
Ich hätte nie gedacht, dass das so lange dauern würde. Ich gehe zu den Begräbnissen der Gefallenen. Die sind sehr traurig. Man fragt sich natürlich ,War es das wert?‘. Ich habe keine Hoffnung, dass das aufhört. Die Jungen werden weiterhin sterben. Und wer sollte das auch anhalten? Höchstens wenn so einer wie Atatürk käme. Nur der könnte ,Halt!‘ sagen. Sonst geht es nicht.“ (August 1998). Aus dem Türkischen von Antje Bauer
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