Jeder nur ein Buch!

Vor 100 Jahren eröffnete Hamburgs erste Bücherhalle – jetzt wird sie eine „Computerhalle“  ■ Von Stefan Pröhl

Dichterische Werke von Felix Dahn, Fritz Reuter, Theodor Storm und Gustav Freytag sowie Hartlebens chemisch-technische und elektronische Bibliothek standen zu Beginn dieses Jahrhunderts bei den Ausleihern hoch im Kurs. Heute sind es Ratgeber- und Computerbücher, die unter den fast zehn Millionen jährlichen Ausleihen der „Schönen Literatur“ den Spitzenrang abgelaufen haben.

Vor hundert Jahren waren es vornehmlich Kaufleute, Handwerker und Hausfrauen, die die erste Hamburger Bücherhalle in den Kohlhöfen 21 in der Neustadt aufsuchten, um sich ein Buch auszuleihen. Die zweite eröffnete am Pferdemarkt, die dritte in Rothenburgsort. Mehr als ein Buch zur Zeit durfte man nicht mitnehmen, die Vielleserei galt gemeinhin als Laster. Gelehrte und betuchtere Bürger Hamburgs wurden in den Kohlhöfen kaum gesehen. Sie lasen in den vielen Leih- und Privatbibliotheken, die bereits 1848 über Bestände von bis zu 30.000 Exemplaren verfügten.

Eduard Hallier (1866-1959), Sohn eines wohlhabenden Architekten, gilt als eigentlicher Initiator für eine Volksbibliothek in Hamburg. Er fand für sein Vorhaben im Hamburger Senat keine Unterstützung. Hamburger Kaufleute argumentierten, dass das Lesen in ausgeliehenen Büchern Lehrlinge von der Arbeit abhielte, Gelehrte befürchteten, dass die Halbbildung im Volk zunähme. Gemeinsam mit dem Reeder Hermann Blohm und dem Industriellen Rudolf Schülke konnte Hallier den Vorstand der Patriotischen Gesellschaft dazu bewegen, hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Der Senat stellte schließlich das frei gewordene Lombardsgebäude an den Kohlhöfen zur Verfügung. Bei der Eröffnung am 2. Oktober 1899 kamen über 400 Menschen in den vier Leseräumen im Erdgeschoss zusammen.

Mitinitiator Rudolf Schülke erfand später auch den Buchanzeige-Apparat – Indikator genannt –, der von 1904 bis zu Beginn der NS-Zeit den Hallen seinen Stempel aufdrückte. Zwar wurde dieser Apparat stolz auf der Mailänder Weltausstellung von 1906 gezeigt, stieß aber bei den pädagogisch engagierten Bibliothekaren auf wenig Gegenliebe. Die Ausleihe funktioniere zu mechanisch, so der Vorwurf. Der Benutzer stand vor einem Regal mit winzigen Fächern; sah er auf dem Holzklötzchen, das im Fach lag, den beschrifteten Zettel mit dem Buchtitel obenauf liegen, konnte er den Klotz umdrehen, seine Lesekarte darunter legen und sich das Buch aushändigen lassen. So mancher Aufklärer vermisste, dass das Personal keine Möglichkeit hätte, die Bücherwahl zu beeinflussen.

Nach 1933 waren die Bücherhallen zwar keine „besonders von Nazis dominierte Institution gewesen“, wie es in der gerade erschienenen, von Matthias Gretzschel und Anne Buhrfeind verfassten Jahrhundertgeschichte der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen heißt, aber die „Bücherhallen und ihre Mitarbeiter haben sich – wenn sie nicht sogar überzeugte Nationalsozialisten waren – widerspruchslos angepasst und im Sinne der NSDAP perfekt funktioniert“.

Während der Weimarer Republik teilten sich häufig Badeanstalt und Bücherhalle ein Dach, seit 1989 finden Neu- und Wiedereröffnungen zusammengelegter Bücherhallen bevorzugt in Einkaufszentren statt. Die Strukturreform 2000-X machte Ernst mit der seit langem angedrohten Abmagerungskur: Die HÖB schlossen von 1996 bis 1998 trotz massiver Proteste 14 Bücherhallen und bauten etwa 70 Personalstellen ab. Ergebnis: Die HÖB wurden schuldenfrei.

Seit etwas über einem Jahr gibt es in der Zentralbibliothek Große Bleichen den Servicebereich Computerwelten – im Vergleich zu so manch anderer Bücherhalle der Republik ein mickriges Angebot. Die Gründe für das recht späte Engagement Hamburgs in Sachen elektronische Recherche und Internet liegen auf der Hand. Wenn Schließungen ins Haus stehen, kann man nicht gleichzeitig mit innovativen Erweiterungen des Angebots aufwarten. Nun wird endlich am 4. Oktober am historischen Ort Kohlhöfen die erste „Computerhalle“ Hamburgs eröffnet: ein Internet-Center. Wie vor hundert Jahren hat die Patriotische Gesellschaft hier Überzeugungsarbeit geleistet.

Wichtiges Augenmerk für die Zukunft wird sein, wie das verminderte Personal den geistigen Anforderungen begegnen kann. Einerseits wächst die Medienlandschaft unerbittlich, und die Nutzer verlangen von den Mitarbeitern vermehrt Auskünfte über das aktuelle Angebot der Informationsbeschaffung. Andererseits darf die soziale Betreuung und die Funktion als Bildungsförderer insbesondere in den kleineren Bücherhallen nicht zu kurz kommen. Hier bietet sich das Modell ehrenamtlicher Mitarbeiter an, das bereits in der Kinderbibliothek „Kolibri“ im sozial stabilen Pöseldorf praktiziert wird. Im sozial schwachen Veddel machte man schlechte Erfahrungen mit den ehrenamtlichen Tätigen und verzichtete schließlich ganz auf deren Dienste.

Für die Zukunft strebt die HÖB-Chefin Hella Schwemer-Martienßen eine verstärkte Arbeitsteilung an. Stadtteilbüchereien sollen eigene Schwerpunkte entwickeln, die Hallen in Altona, Harburg und Wandsbek werden mit modernster Technik die Zentralbibliothek entlasten. Diese soll für das Jahr 2000 umstrukturiert werden und „kein Warenhaus mehr, sondern eine Kollektion von Einmaligkeiten“ sein. Zusätzliche Investitionsmittel in Höhe von einer Million Mark jährlich, von der Kultursenatorin erst mal bis ins Jahr 2001 veranschlagt, sollen dies möglich machen.