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■  Die verstrahlten Menschen in Tokaimura leiden unter Durchfall, Atemnot und Übelkeit. Während die japanische Regierung Fehler bei der Beurteilung der Kettenreaktion in der Urananlage eingesteht, wiegelt die deutsche Atomindustrie und die Bundesregierung ab: Hierzulande könne so ein Unfall nicht passieren.Sicher ist nur das Restrisiko

In der eher verschlafen wirkenden Kleinstadt Tokai hat der schlimmste Atomunfall in der von Störfällen gepeinigten japanischen Atomindustrie wie ein Blitz eingeschlagen. Mit einem blauen Lichtblitz startete eine Kettenreaktion in der Wiederaufbereitungsanlage Tokaimura, die zu einem schweren radioaktiven Ausfall in die Umgebung führte.

Mehr als 50 Menschen wurden verstrahlt und zwei Männer sind in einem kritischen Gesundheitszustand. Erst am Freitag, zwanzig Stunden nach dem Unfall, konnte die außer Kontrolle geratene Kettenreaktion eingedämmt werden. Ein Hausarrest für rund 310.000 Bewohner rund um die Atomanlage wurde am Freitagabend teilweise aufgehoben. In der näheren Umgebung von 350 Metern um die Anlage wurde die 4.000-fache Strahlendosis gemessen.

Wie bereits bei anderen Störfällen hat die japanische Regierung diesen Unfall in seiner Anfangsphase wiederum unterschätzt. Regierungssprecher Hiromu Nonaka gab am Freitag offen zu, dass „die Regierung den Ernst der Lage zu spät“ realisiert habe. Die Anti-Atomkraft-Vereinigung „Citizens Nuclear Information Center“ von Tokio nannte die Reaktion der Behörden auf den Unfall „unverantwortlich“.

Zwei Anwohner wurden verstrahlt

Erst acht Stunden nach dem Beginn der Kettenreaktion seien die Bürger in Tokai informiert worden und mit der Evakuierung von gefährdeten Anwohnern sei zu lange gewartet worden, kritisierte die Bürgerbewegung. Nur deshalb seien auch zwei Einwohner Tokais unter den Strahlenopfern.

Obwohl eine andere Abteilung derselben Anlage in Tokaimura erst im März 1997 Schauplatz des bislang schwersten Atomunfalls war – 37 Mitarbeiter des Werks wurden damals mit Radioaktivität verstrahlt – haben die Behörden es wiederum für unnötig befunden, die Bevölkerung in der Umgebung offen und schnell zu informieren. Eine Haltung, die vom lokalen Atomkraftwerksgegner Chihiro Kamisawa als „naives Vertrauen in die Sicherheit der veralteten Anlage und die Atomtechnologie“ scharf kritisiert wurde.

Noch am Freitag stritten sich in Tokio verschiedene Ministerien über die Einschätzung der Katastrophe. Hirobumi Kawano, Vorsteher des Sonderministeriums für Rohstoff und Energie, erklärte, eine unkontrollierbare Kettenreaktion in einem der 51 Kernkraftwerke des Landes sei wegen der Sicherheitsstandards ausgeschlossen.

Dagegen befand das Handels- und Industrieministerium Miti, dass nach diesem schweren Unfall, bei dem gegen vorgefasste Sicherheitsstandards gehandelt worden sei, eine generelle Überprüfung notwendig werde.

Zwei Arbeiter, Hisashi Ouchi und Masato Shinohara, wurden am Unfallort einer 10.000-fachen Strahlendosis ausgesetzt, die etwa derjenigen von Tschernobyl entspricht. Ihre Überlebenschance ist sehr gering. Sie hatten versehentlich 16 Kilogramm Uran in einen Behälter mit Salpetersäure gefüllt, der nur für 2,4 Kilogramm zulässig war. Die beiden Arbeiter stehen unter Schock, leiden an Fieber und Durchfall und werden derzeit in einer Spezialklinik in Tokio behandelt.

Tokaimura ist ein Bindeglied im Atomprogramm

Wegen des schweren Unfalls von Tokaimura musste Japans Premier Keizo Obuchi eine geplante Kabinettsumbildung verschieben. Er entschuldigte sich indirekt für die Katastrophe und die falsche Informationspolitik der Behörden. „Wir waren langsam in der Entscheidungsfindung. Nun müssen wir sicherstellen, dass so ein Unfall nie mehr vorkommen wird“, sagte Obuchi am Freitag.

Tokaimura ist ein wichtiges Bindeglied in einem ehrgeizigen Atomprogramm Japans. Die japanische Regierung versucht, einen nuklearen Kreislauf unter Einbeziehung der Brütertechnologie zu schließen. Die Arbeiter in Tokaimura arbeiteten an der Anreicherung von Uranstäben für den Testreaktor Joyo – ein schneller Brüter. An dieser Technologie hält Japan auch vier Jahre nach dem schweren Störfall im Schnellen Brüter Monju fest.

Der jüngste Störfall in Tokaimura hat bisher wiederum nur dieSicherheitsdiskussion von Atomanlagen angeregt. Ein Ausstieg aus der umstrittenen Brütertechnologie in Japan ist deshalb nicht zu erwarten.

Für die japanische Wirtschaft wird der Atomunfall nach Einschätzung von Finanzminister Kichi Miyazawa keine großen Folgen haben. In Tokio sagte Miyazawa gestern, das Finanzministerium werde nötigenfalls Mittel zur Verfügung stellen. Der Yen gab vorübergehend zum Dollar nach, erholte sich aber rasch wieder, nachdem bekannt wurde, dass die Kettenreaktion gestoppt ist.

André Kunz

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