: „Die SPD hat keine feste Bank mehr“
■ Franz Müntefering lässt sich von Papieren wie den Schröder/Blair-Thesen nicht stören. Er setzt aufs Konkrete – und die übernächste Generation
taz: Die Erwartungen an den neuen SPD-Generalsekretär sind extrem hoch. Macht Ihnen das Angst?
Franz Müntefering: Angst nicht. Aber alle wissen – ich auch: Das kann keiner alleine. Das ist ein Mannschaftsspiel, bei dem ich meine Möglichkeiten einbringen werde.
Es gibt Genossen, die erwarten von Ihnen, dass Sie die Lücke füllen, die Lafontaine hinterlassen hat.
Das habe ich noch nicht gehört. Das will und kann ich auch nicht.
Es gab in der Partei die Balance: Schröder für Innovation, Lafontaine für soziale Gerechtigkeit. Sie brauchen doch jemand, der Lafontaine ersetzt, oder?
Diese angebliche Balance haben manche so beschrieben und wir haben das vielleicht auch ein bisschen zu sehr zugelassen. Aber Lafontaine war auch immer Modernisierer, und Schröder war immer auch Parteimann. Wir müssen jetzt darauf achten, dass wir diese beiden Elemente nicht wieder auseinander fallen lassen. Deswegen muss der Parteivorsitzende und Kanzler beides abdecken. Und jeder von uns auch.
Was ist für Sie soziale Gerechtigkeit?
Gute Frage. Das ist nämlich der Punkt, der in Deutschland diskutiert werden muss. Für mich ist das mehr als nur eine Verteilungsfrage. Soziale Gerechtigkeit muss zum Ziel haben, dass Wohlstand in diesem Land auch in Zukunft bleibt, damit man das, was man gemeinsam erwirtschaftet hat, auch gemeinsam nutzen kann. Jetzt genauso wie in 30 Jahren.
Warum wird die SPD-Politik von vielen als sozial ungerecht empfunden?
Mit der Diskussion in der Sommerpause haben wir selbst diesem Vorurteil ungerechtfertigterweise Nahrung gegeben. Denn alle, die sich zu Wort gemeldet haben, mussten eigentlich wissen, dass wir auf einem guten Weg sind.
Hat die SPD zu viel Querulanten in den eigenen Reihen?
Nein. Das ist eher eine Frage, wie man mit Regierungsmacht umgeht. Da ist Einigkeit und Geschlossenheit gefragt. Nicht jeder kann nach einer einmal getroffenen Entscheidung seine Zweifel, die er an der ein oder anderen Stelle hat, immer wieder verbreiten. Die Menschen wollen auch sehen, dass politisch geführt wird und wohin es geht. Es ist denkbar schlecht für das eigene Ansehen und auch für das Vertrauen der Menschen in die Politik, wenn eine Regierungspartei durcheinander redet.
Die Kritiker sollen dann lieber den Mund halten?
Vor Entscheidungen kann diskutiert werden, wenn entschieden ist, nicht mehr. Es sei denn, es ist eine Gewissensfrage.
Was wäre für Sie eine solche?
Todesstrafe, Abtreibung – solche Kategorien meine ich.
Kriegseinsätze?
Das ist etwas, wo ich akzeptiere, dass manche das als Gewissensfrage verstehen.
Sie haben zu dem Schröder/Blair-Papier bisher eisern geschwiegen. Was halten Sie davon?
Das ist nichts, was mich groß bewegt, weil ich nicht sehe, dass sich daraus unmittelbar konkrete Konsequenzen für das Regierungshandeln ableiten.
Aber mittelbar?
Mittelbar insofern, dass wir in Europa den Versuch machen sollten, eine gemeinsame sozialdemokratische Linie aufzubauen. Das halte ich für richtig und wichtig.
War es von Schröder ein strategischer Fehler, das Papier zu diesem Zeitpunkt vorzulegen?
Das Papier schadet nichts, aber es bringt uns auch nicht weiter bei dem, was jetzt ansteht. Wir müssen unsere konkrete Politik verbessern, das ist die erste Aufgabe.
Warum schaffen Sie es nicht, junge Leute für die SPD zu begeistern?
Die jungen Menschen haben wenig Vertrauen zu den Parteien, vor allem von den 20- bis 30-jährigen sind viele nicht zur Wahl gegangen. Bei denen, die CDU gewählt haben, spielen Stimmung und Moden eine Rolle. Wir müssen der nachwachsenden Generation noch mehr Chancen in der Partei geben. In der Bundestagsfraktion gibt es immerhin 30 Abgeordnete unter 40 Jahre. Dazu habe ich meinen Teil beigetragen.
Warum ist denn unter den Jüngeren angesagt, CDU zu wählen?
Das könnte eine Gegenreaktion sein. Meine Generation, die in der Partei breit vertreten ist, hat vielleicht dazu beigetragen, dass viele Junge sagen, wir haben keine Lust auf Gesundheitsschuhe und Müsli und die 68er. Die suchen irgendetwas Neues und wollen sich von ihren links-grünen Eltern absetzen. Ich halte diese Generation nicht für unpolitisch, sie protestiert gegen das Establishment.
Gegen das rot-grüne Establishment?
Die wollen was anderes. Das hat mehr mit Lebensgefühl und Stil zu tun als mit politischen Details. Bei der Bundestagswahl war Helmut Kohl für die ganz Jungen kein so großes Ärgernis wie für die Leute mittleren Alters. Er verkörperte den netten Großvater.
Wenn das so ist, sieht es bei der nächsten Bundestagswahl aber schlecht für Rot-Grün aus.
Nein. Die Zeit geht weiter und es kommen wieder welche, die sind dann erreichbar. Und wir selbst als Regierung gewinnen Erfahrung und Solidität.
Wie wollen Sie verhindern, dass der Einfluss der SPD im Osten schwindet, während der der PDS stetig steigt?
Ich sehe da kein Gesetz der Serie. Wir werden wieder besser und kriegen auch wieder Zustimmung. Die Menschen im Osten sind bereit, von Wahl zu Wahl die Partei zu wechseln, um ein Zeichen zu setzen. Die Demokratie ermöglicht das.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Dass wir uns bei jeder Wahl neu anstrengen müssen, weil wir keine feste Bank mehr haben. Wähler gehören keiner Partei, uns nicht, aber auch anderen nicht.
Was wollen Sie tun?
Es muss uns gelingen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Das ist die Kernfrage. Da sind wir auf gutem Weg. Die Rahmenbedingungen werden günstiger. Deshalb wird es uns gelingen, die Arbeitslosigkeit um einige Hunderttausend im Jahresdurchschnitt zu senken. Das wird das Überzeugendste sein. Außerdem wird die Steuerreform so wirken, dass die Leute erkennen, dass sie etwas mehr Geld im Portemonnaie haben.
Was wollen Sie als künftiger Generalsekretär als erstes anpacken?
Ich werde eine ordentliche, dauerhafte Koordination zwischen Partei und Kanzleramt, Bundestagsfraktion und Ländern herstellen. Wir müssen als moderne Volkspartei auf dem Medienmarkt bestehen. Es ist nicht mehr so einfach, unsere Botschaft an die Leute zu bringen. Wenn irgendetwas passiert, ist das abends in den Nachrichten, und ehe ich eine Chance habe zu sagen, „so kann man das beurteilen“, da haben die Kolleginnen und Kollegen längst eine eigene Meinung dazu. Was kann ich da auf einer Mitgliederversammlung noch erzählen?
Die Stimmung in der Partei ist nach den Wahlniederlagen mehr als schlecht. Wie wollen Sie die Delegierten auf dem Parteitag im Dezember motivieren?
Die meisten, die jetzt traurig oder sauer sind, weil sie verloren haben, sind bereit zu einem konstruktiven Ansatz. Der Parteivorstand wird Mitte Oktober den Antrag „Perspektiven sozialdemokratischer Regierungspolitik“ vorstellen. Das wird zu einer breiten Diskussion führen. Dann hoffe ich, dass der Parteitag dem zustimmt und wir dieses Konzept mit Gerhard Schröder auch nach außen vermitteln können.
Haben Sie sich mit der drohenden Wahlniederlage in Berlin schon abgefunden?
Nein, wir kämpfen hier um jeden Meter, um jede Stimme.
Inwieweit geht es bei der Landtagswahl in NRW im Mai 2000 um die Zukunft der Bundesregierung?
Es geht da um eine Landtagswahl. Nichts anderes steht zur Abstimmung. Die Bundesregierung ist gewählt bis zum Herbst 2002, und wir bereiten uns sorgfältig darauf vor, dann wieder zu gewinnen.
Der Verlust von NRW wäre aber ein harter Nackenschlag für die SPD.
Wir werden die Wahl gewinnen.
Wie weit geht denn Ihr Engagement?Wären Sie für Wählerstimmen auch bereit, sich Hochglanz ablichten zu lassen wie der Kanzler oder Wolfgang Schäuble?
So was ist nichts für mich. Das passt nicht zu mir. Ich kaufe bei Meier und Co.
Sind Sie der nächste SPD-Parteivorsitzende – und Bundeskanzler?
(Lacht) Ganz sicher nicht.
Parteivorsitzender auch nicht?
Auch nicht. Ich habe wirklich genug zu tun und bin außerdem 59 Jahre.
Dann könnten Sie in ein paar Jahren doch auf den Opa-Effekt setzen.
(Lacht.)
Interview: Karin Nink und Tina Stadlmayer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen