Grüne Hoffnung in roter Ausgehmeile

Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am Sonntag haben die Grünen im Osten der Stadt nur eine Chance auf ein Direktmandat: Jeannette Martins ist in Prenzlauer Berg aufgestellt. Einzige Konkurrenz: die PDS  ■   Von Ralph Bollmann

Martins wirbt Leihstimmen ein: Sie empfiehlt sich den Wählern von SPD und CDU als „kleineres Übel“ im Vergleich zur PDS

Berlin (taz) – Es ist zwölf Uhr mittags, der Herbstwind bläst der Kandidatin scharf ins Gesicht. Oben rattert die Hochbahn, während unten die Frau im roten Pulli versucht, mit den Passanten ins Gespräch zu kommen. Leicht ist das nicht. Das Wahlvolk, hier überwiegend Studenten oder Rentner, strebt mit starrem Blick am Stand der Grünen vorbei, als sollte es angebettelt werden. Die wenigen, die kurz innehalten, jammern über karge Renten und hohe Mieten – oder sie wettern gegen die grüne „Kriegstreiberpartei“.

Das Rennen, das weiß Jeannette Martins selbst, wird knapp – allerdings auf hohem Niveau: Während die Grünen andernorts um ihre politische Existenz bangen, kämpft die Kandidatin im Prenzlauer Berg um ein Direktmandat. Wenn die Berliner am 10. Oktober ihr neues Abgeordnetenhaus wählen, hat sie als einzige der 32 grünen Wahlkreisbewerber im Osten der Stadt eine Chance, der PDS das Mandat streitig zu machen. Vor vier Jahren hatte ihre prominente Parteifreundin Marianne Birthler, einst Ministerin in Brandenburg, den Einzug ins Landesparlament nur um wenige Stimmen verfehlt – sie war, anders als Martins, nicht über die Landesliste abgesichert.

„Prenzlauer Berg 3“, das ist nicht irgend ein Wahlkreis, das ist ein Laboratorium der Einheit – weit mehr als das Bürokratenghetto des neuen Regierungsviertels. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung ist erst nach 1990 in den Kiez gezogen, die meisten Neubürger kamen aus dem Westen. Jeder zweite Einwohner ist jünger als 35 Jahre. Die Gegend um den Kollwitzplatz ist längst zur schicken Ausgehmeile avanciert: Vor der Haustür des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse reiht sich auf den Bürgersteigen Straßencafé an Straßencafé.

Die Grünen haben im Bezirk fast so viele Mitglieder wie sonst im Osten in einem ganzen Bundesland. Die Wahlergebnisse erreichen nahezu die Kreuzbergs, der traditionellen Grünen-Hochburg im Westen Berlins. Bei der Europawahl im Juni kam die Partei, trotz Kosovo-Krieg und rot-grüner Bundesregierung, im Wahlkreis auf 29 Prozent der Stimmen – nur knapp hinter der PDS mit 33 Prozent. CDU und SPD spielen hier kaum eine Rolle. Die CDU hat nicht mal das Gesicht ihrer Bewerberin plakatiert.

Kein Wunder also, dass Jeannette Martins im Wahlkampf vor allem die Sozialisten attackiert: Die PDS suggeriere, der Staat könne „alles richten“. Martins dagegen redet lieber von „Selbsthilfe und Eigeninitiative“. Sie kritisiert die Autofreundlichkeit der PDS-Klientel und stöhnt darüber, dass es in ihrem Wahlkreis auch ein paar Plattenbauten gibt. Dort, weiß sie, habe PDS-Kandidat Bernd Holtfreter „schon die ersten 500 Stimmen im Sack“.

Doch anders als in den Vorstädten ist die PDS in Prenzlauer Berg eben nicht die Partei der Spießbürger aus dem Plattenbau mit dem neuen Auto vor der Tür. „Wir haben hier nicht den PDS-Mief, den es woanders vielleicht gibt“, sagt PDS-Kandidat Holtfreter. Zu DDR-Zeiten hat er erfolgreich gegen den geplanten Abriss ganzer Straßenzüge protestiert, heute mokiert er sich über den Mythos vom Prenzlauer Berg als Hochburg der DDR-Opposition: „Die zwei Dutzend Bürgerrechtler habe ich alle persönlich gekannt.“ Durch sein Engagement in Mieterinitiativen ist Holtfreter bei den Aktivisten im Kiez bekannt wie ein bunter Hund. Auch am Wahlkampfstand wird er von Anwohnern gebeten, die Eigentumsverhältnisse eines Hauses zu klären oder ein Grundstück mit alten Lindenbäumen zu retten.

Starke Worte gegen den sozialen Umbruch im Kiez gehen Jeannette Martins nicht über die Lippen. Stattdessen redet sie von einem „natürlichen Wandel“, der sich allenfalls „abfedern“ lasse. Sie könne „verstehen, dass Familien wegziehen“, sagt die 32jährige, die sich mit Mann und zwei Kindern gerade eine Wohnung in einer ruhigeren Ecke des Bezirks ausgebaut hat. Nur wer für bessere Schulen und weniger Verkehr sorge, könne Familien im Bezirk halten, glaubt Martins.

Wenn die Kandidatin – die Haare mit einem Tuch gebändigt, mit langem schwarzen Rock und Holzclogs – im Straßenwahlkampf rund um den Kollwitzplatz um die Gunst der schicken Szenejugend wirbt, wirkt sie ein wenig wie aus einer anderen Zeit. Anpassen mag sie sich nicht. Nicht ohne Stolz erzählt Martins, wie sie einst zum Beginn des letzten Schuljahres ohne FDJ-Hemd erschien und prompt zum Direktor zitiert wurde. Allerdings war sie pragmatisch genug, um flugs die Ausrede zu ersinnen, ein Freund habe das Hemd „aus Versehen zerrissen“.

1989 schloss sie sich den Ost-Grünen an, die sich schnell mit den West-Grünen vereinigten. Die studierte Agrarpädagogin bildete Landschaftsgärtner fort und engagierte sich in der Bezirkspolitik, bevor sie vor vier Jahren erstmals über die Landesliste ins Abgeordnetetenhaus einzog.

Am liebsten spricht Martins, die ohnehin unentwegt reden kann, über ihr eigentliches Metier: die Jugendpolitik. Gern zählt sie auf, wie sie Gelder für Streetworker, Jugendklubs oder Kinderbauernhöfe retten konnte, wie sie sich im östlichen Außenbezirk Marzahn mit einer Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher auseinandersetzte. Nicht gerade Themen, mit denen sie hier Stimmen fangen könnte.

Jetzt im Wahlkampf geht es für die Grünen fast ausschließlich um Bundespolitik. Also hat Martins die Staatssekretärin Christa Nickels oder Bundestagsabgeordnete wie Cem Özdemir und Christine Scheel zu „Kneipengesprächen“ in den Wahlkreis geholt. Dort durften sie dann, bei Milchkaffee und Wernesgrüner Pils, über die Politik der Bundesregierung „aufklären“, wie die Kandidatin sagt. Da sollten die Parteifreunde aus dem Bund auch einmal selbst den Ärger der Basis spüren. Schließlich betrachten die Berliner Grünen, die hier mit mindestens zehn Prozent gehandelt werden, ihre eigene Oppositionsarbeit als höchst professionell – und empfinden es daher als zutiefst ungerecht, dass sie sich auf der Straße unentwegt für Kosovo-Krieg und verschobenen Atomausstieg rechtfertigen müssen.

Auch auf die Stammwähler kann sie sich nicht mehr verlassen, das hat die Kandidatin im Wahlkampf gelernt. In der letzten Woche vor der Wahl empfiehlt sie sich deshalb den Wählern von CDU und SPD offensiv als „kleineres Übel“ im Vergleich zur PDS.

Andernorts wären die Grünen froh, könnten sie derart selbstbewusst auftreten. Was sie ihren Parteifreunden in der ostdeutschen Diaspora raten soll, weiß Martins aber auch nicht recht. In den neuen Ländern fehlen einfach die grünen Milieus. Und die werden in Hoyerswerda oder Rostock gewiss nicht so schnell wachsen wie in Berlin-Prenzlauer Berg.