: Schütteln und Backen
■ Henning Harnisch
Preußisch wirft der ältere Mensch sein linkes Bein vor mich und mein Fahrrad und gibt mir dadurch unmissverständlich zu verstehen, dass die Rolltreppe des S-Bahnhofs Alexanderplatz eine fahrradfreie Zone ist. Vor mir gleitet der Rücken des Bürgers als Sheriff hinab. „Was haben Sie denn für ein Lebensmodell gewählt!“, rufe ich ihm ehrlich verblüfft hinterher. Seine prompte Antwort: „Sie sind doch Bonner!“
Sind Sie Bonner? Sind Sie fit fürs Ficken? Sind Sie fit for fun?
Ich trete ins Freie und schiebe mein Fahrrad und meine Müdigkeit über den spätsommerlichen Alexanderplatz. Der Mann hat sicher Gründe für sein strenges Verhalten, denke ich. Bestimmt ist ihm mal ein Fahrrad auf den Kopf gefallen. Alte Menschen haben es schwer; niemand liebt sie; ihre Ideale sind verkauft oder verbraucht.
Bums, schon bin ich gegen eine Straßenlaterne gelaufen. Aber nein, es ist ein Mann. Und was für ein Mann! Es ist ein Mann aus der Werbung. Einen Stapel Magazine in der Armbeuge ausgelegt wie ein Zeuge Jehovas, hält er mich fest und setzt kariesfrei strahlend an: „Hallo Sie, entschuldigen Sie mal, aber machen Sie sich eigentlich fit für die Liebe?“ Haben die jetzt eine neue Strategie, überlege ich: Er sieht so körperlich aus. Da verrenkt der Mann seinen Kopf nach links, reißt seinen Mund auf, schnappt gierig nach Luft und ruft: „Das Oktoberheft Fit for fun! Nie wieder krank! Und Sexercises! Crunches vor dem Poppen! Von nichts kommt nichts! Jeden Tag hundert Stück, dazu die Pobacken zusammenkneifen, und alles ist im grünen Bereich! Ordentlich Saft für Po und Becken!“ Er lacht verzückt, schwenkt energisch seinen Kopf nach rechts gen Himmel und schnappt heftig. „Hören Sie, lassen Sie mich einfach nach Hause gehen“, flüstere ich schwach, „Ich hatte einen schweren Tag: die alten Menschen, die Ideale ...“ – „Schwerer Tag, papperlapapp, zwanzig Sekunden lang Schreibtisch pressen beim Bizeps-Pull am Arbeitsplatz, ein paar Tisch-Push-ups und zum Abschluss die Ellen-Presse.“ Der Kopf schwenkt nach links; Luftschnappen – das ist ja wie bei Bobele zur schlimmsten Zeit. „Wie, Sie kennen die Ellen-Presse nicht? Ganz einfach, Fäuste ballen, die Ellen kräftig gegen den Tisch pressen ...“ – „Hören Sie mal“, entgegne ich, jetzt freudig, „ich kenne Sie, Sie sind der, der im Prinzenbad die goldene Kampfschwimmermedaille überreicht bekam, jeden Tag 5.000 Meter und immer auf der Linie geschwommen. Auf Ihrer Linie da ganz außen auf der Bahn im Becken, da sind Sie nicht gewichen, vor niemanden, niemals. Doch, jetzt erkenne ich Sie, Sie alter Krauler!“ Er ist beeindruckt: „Wie haben Sie das bemerkt, ungeheuerlich!“ „Ihre Atemtechnik“, lächle ich wissend, „unverwechselbar. So schnappt nur einer, der König vom Prinzenbad.“ „Ja“, sagt er etwas stolz und gerührt, „der König vom Prinzenbad, das bin wohl ich.“ Er schaut glücklich zu Boden. Auf einmal durchzuckt es ihn, er wirft die Magazine in die Höhe und schreit: „Schwimmen war erst der Anfang! Fit for fun, das ist meine wahre Mission! Mein Leben hat endlich einen Sinn! Ich bin schön, alles ist schön! Körper, Körper, Körper!“ Es mustert mich kritisch. „Auch du, halbjunger Mann, auch du kannst deinen Körper gewinnen. Training, Training, Training!“ Es zuckt. „Muskeln, Arterien, Fasern, Lunge, alles in einem Magazin. Love und Soul! Freiheit, Erfolg und Abenteuer sowieso! Und diesen Monat ganz neu: Einsichten aus Grönland! Auf der Eisscholle beim Manager-Training!“ Es kneift mich in die Hüfte. „Diät, Diät, Diät!“, äht es. „Da schauen Sie her“, es streift sein T-Shirt über den Kopf, „hier, siebzehn Spurrillen, da wo mal der Bauch war“, spricht es, „mit Ohrenstäbchen finde ich auch dort den Schmutz ...“
Plötzlich windet es sich, schmeißt sich hin, krabbelt wie ein Baby auf dem warmen Asphalt, sucht seine Hefte zusammen, umarmt sie, stockt einen Augenblick, lächelt in meine Richtung, als sei ich eine Modefotografenkamera, winkelt seine Beine an und brabbelt: „Noch 2.000 Crunches!“
Es redet weiter; ich entferne mich leise. Von fern drehe ich mich noch einmal um: Ich sehe es, es ist noch dabei; stetig und rhythmisch. Ich verspüre Mitleid. Aber das vergeht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen