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Gewinne gingen vor Sicherheit

Die Privatisierung der britischen Bahn hat verheerende Folgen: Sicherheitsstandards wurden vernachlässigt. Es ist bereits der zweite schwere Unfall  ■   Aus London Ralf Sotscheck

„Die Trauer der Nation wird sehr schnell in Zorn umschlagen“, prophezeihte gestern das britische Boulevardblatt „Sun“

Wer hat Schuld an dem Londoner Eisenbahnunglück, bei dem vorgestern 30, 50 oder vielleicht sogar 90 Menschen starben? Für Mick Rix von der Eisenbahnergewerkschaft Aslef ist die Sache klar: Es war die Privatisierung der Bahn vor drei Jahren. „Wäre British Rail nicht verkauft worden, hätte das Unternehmen 1994 oder spätestens 1995 ein modernes Sicherheitssystem installiert“, sagte er gestern. Er verlangte von der Regierung, binnen einer Woche Maßnahmen zu ergreifen, um weitere Katastrophen zu verhindern. Andernfalls, droht die Gewerkschaft, würde zum Streik aufgerufen.

Am Dienstag Morgen im Berufsverkehr war ein Schnellzug der Great Western Trains zwei Minuten vor seiner Ankunft in London-Paddington mit einem Diesel-Vorortzug von Thames Railways, der die Strecke kreuzte, zusammengestoßen. Dabei fing der Diesel Feuer. Bis gestern Nachmittag waren 27 Leichen geborgen, mehr als 150 Menschen mussten im Krankenhaus behandelt werden. Da aber zwei Waggons vollkommen ausgebrannt sind, wird sich die Zahl der Toten mit Sicherheit erhöhen.

Über die Ursachen des Unglücks gibt es verschiedene Angaben. Zwei Streckenarbeiter erklärten, der Schnellzug habe kurz vor dem Zusammenstoß ein rotes Signal überfahren. Sicherheitsinspektoren sagten dagegen, der Lokomotivführer des Vorortzuges habe ein rotes Signal und zwei weitere Warnzeichen ignoriert. Bisher ist erst eine „Black Box“, eine Art Fahrtenschreiber für Eisenbahnen und Flugzeuge, gefunden worden. Beide Lokomotivführer sind bei dem Zusammenstoß wahrscheinlich ums Leben gekommen, obwohl das offiziell noch nicht bestätigt ist.

Seit 1993 ist das betreffende Signal 109 bereits achtmal von einem Zug überfahren worden. Im Februar vorigen Jahres wäre es fast zu einem Zusammenstoß gekommen, weil das Signal defekt war. Bei Railtrack, das für die Strecken und Signale zuständig ist, sind zahlreiche Beschwerden über das Signal eingegangen. Auf demselben Streckenabschnitt wurden vor zwei Jahren bei einer Zugkollision sieben Menschen getötet. Die Untersuchung, die daraufhin von Railtrack selbst angekündigt wurde, hat gerade erst begonnen. Great Western Trains musste 1,5 Millionen Mark Strafe zahlen.

Eine unabhängige Untersuchung der Firma Booz-Allen kam vor kurzem zu dem Ergebnis, dass Railtracks Infrastruktur schlechter ist als vor der Privatisierung. Railtrack habe nicht genügend Geld in die Verbesserung der Bahn investiert, obwohl die Profite bei 400 Millionen Pfund lagen.

Im vergangenen Jahr haben die Fälle, in denen rote Signale überfahren wurden, um 15 Prozent zugenommen. Nach dem Unglück von Clapham, bei dem vor elf Jahren 35 Menschen starben, hatte Anthony Hidden, der die Untersuchung leitete, die Anschaffung des modernen Sicherheitssystems „Automatic Train Protection“ (ATP) empfohlen. Doch das hätte eine Milliarde Pfund gekostet, und die wollten weder die Tories noch die Labour-Regierung ausgeben. Stattdessen kündigte der stellvertretende Premier und Transportminister John Prescott an, bis 2003 ein viel billigeres System in die Züge einbauen zu lassen. Im Gegensatz zu ATP stoppt es die Züge jedoch nicht automatisch, wenn sie ein rotes Signal überfahren.

Die Briten waren gestern noch im Schockzustand, es ist eine Atmosphäre wie im deutschen Eschede, als im vergangenen Jahr 100 Menschen bei dem Intercity-Unglück starben. Doch die „Trauer der Nation wird sehr schnell in bitteren Zorn umschlagen“, prophezeite die Sun gestern. Für das Boulevardblatt ist das Unglück eine „komplette nationale Schande erster Ordnung“. Die Zeitung fragt: „Wie konnte das geschehen? Über diese Art von Unfällen denkt man doch, dass sie nur in der dritten Welt passieren.“

Im Guardian heißt es: „Das Zugunglück wird die Sicherheitsdebatte über die britische Bahn in der Ära nach der Privatisierung zu Recht neu entfachen. Sogar unter den Befürwortern der Privatisierung besteht das unbehagliche Gefühl, dass man zumindest einen Teil der Gewinne besser dafür verwendet hätte, die Infrastruktur sicherer und zuverlässiger zu machen.“ Und der Independent schreibt: „Jeder, der jetzt noch sagt, dass die Einführung neuer Sicherheitsbestimmungen zu teuer sei, beleidigt die Toten.“

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