: Die Kunst der Zentrifuge
■ 10 Jahre deutsche Einheit – und immer noch kommen unfassbare Dinge ans Licht
Rechtzeitig zum 10jährigen Jubiläum des Mauerfalls wartet die Gauck-Behörde mit einer Meldung auf, die eine bislang über jeden Verdacht erhabene kulturelle Institution Ostdeutschlands der schändlichsten Verstrickung mit dem SED-Regime zeiht.
Löste schon die Nachricht, dass Wolf-Dieter Wutzsch, der weit über die Grenzen Leipzigs hinaus bekannte Thomas-Kantor, ein Informant der Stasi gewesen sein soll, Bestürzung und Betroffenheit in der Musikwelt aus, so vermochten die jetzt an die Öffentlichkeit gelangten Enthüllungen von Ensemblemitgliedern über seinen „dirigistischen“ Führungsstil und die von ihm vorgenommenen „Neubearbeitungen“ der klassischen Chorwerke nur noch fassungsloses Kopfschütteln unter den Liebhabern von Chormusik in aller Welt hervorzurufen.
Doch wer ist dieser Mann, der nach jahrzehntelanger Arbeit am musikalischen Erbe nun endgültig seinen Taktstock niederzulegen hat?
Glaubt man den vorgelegten Dokumenten, so war Wolf-Dieter Wutzsch ab 1972 im Range eines Oberleutnants im „besonderen Einsatz“ als Leiter des weltberühmten Thomaner-Chores tätig. Er verstand es wie nur wenige Kulturschaffende der ehemaligen DDR, im Laufe seiner Dienstzeit aus dem bürgerlich-reaktionären Relikt einer untergegangenen Epoche einen schlagkräftigen Klangkörper von selten gehörter stimmlicher Geschlossenheit zu schmieden.
Möglich war dies nur durch strengste musikalische Disziplin und gnadenlosen Drill der Stimmbänder der Ensemblemitglieder. Mit einem streng an der marxistischen Harmonielehre ausgerichteten Übungsprogramm vermochte Wutzsch den traditionsreichen Leipziger Chor zu einer vokalen Homogenität zu führen, dessen Darbietung klassischer Chorwerke in punkto Einstimmigkeit nur noch von den Abstimmungsergebnissen der Volkskammer übertroffen wurde.
War Wutzsch auch ob seiner dirigistischen Methoden gefürchtet, so geriet ihm doch die traditionelle Montags-Motette zu einer Demonstration historisch-materialistischer Klangkultur, neben der selbst die Darbietungen des Chors der Roten Armee wie das Geplänkel des Liederkränzchens Immergrün wirkten.
Sicher gehörte es schon immer zu den menschenverachtendsten Praktiken des SED-Regimes, Kulturleistungen vergangener Epochen zu vereinnahmen und für sich zu reklamieren, doch die jetzt bekannt gewordenen Tatsachen über die schleichende „Umgestaltung“ des musikalischen Erbes durch willfährige Kreaturen vom Schlage eines Wolf-Dieter Wutzsch schlagen denn doch dem Bass den Boden aus:
Wäre es ihm noch möglich gewesen, die Vorgaben des letzten musikalischen 5-Jahres-Plans der DDR zu erfüllen, hätte eine hilflose Musikwelt die völlige Anpassung der traditionellen Kirchenmusik an die Erfordernisse der entwickelten sozialistischen Gesellschaft miterleben müssen: Neben Klassikern wie der Missa Marxensis und der Engels-Passion wäre es nämlich auch Auftrag Wutzschs gewesen, Werke zur höheren Ehre des Arbeiter-und-Bauern-Staates zur Aufführung zu bringen. Und eine Messe in HO-Moll zum 40. Jahrestag der Handelsorganisation oder gar Die Kunst der Zentrifuge, ein polyphones Meisterwerk über die Erfolge der milchverarbeitenden Industrie hätten die Hörgewohnheiten der Musikliebhaber denn doch auf eine arge Zerreißprobe gestellt!
So mag der Rücktritt Wolf-Dieter Wutzschs als ein später Akt der Selbstreinigung gewertet werden, der es dem traditionsreichen heldenstädtischen Klangkörper ermöglichen sollte, unter neuer Leitung zur gewohnten musikalischen Qualität zurückzufinden.
Rüdiger Kind
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