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Eine Geschichte über das Ausgehen im Westen Berlins ■ Von Thomas Findeiß
Die Bars und Kneipen des alten Berliner Westens sind ein Endlager strahlender Rhapsodien. Gekränkte, betrogene, verlassene, für immer unerhörte Seelen. Nichts dringt nach oben vom Sockel des Riffs. Jeder will jeden belehren, man durchdringt sich gegenseitig, bis man implodiert. Beruflich erfolgreich, privat frustriert. Bizarre Riten auf den asphodelischen Wiesen, warten, rätseln, ob man schon lebendig ist oder noch tot. Egal.
Eine Hand voll Überlebender in einem Sumpftümpel des Mesozoikums. Glotzende Reptilien, aufgeblähte Frösche, antropoide Elritzen. Sie spähen, spucken, schnappen, glitschen einem durch die Finger. Für einen guten Auftritt gibt es immer einen Drink. Die Dons müssen unheimlich hart arbeiten, um ihre Klientel in Schach zu halten; damit verbrauchen sie einen Großteil ihrer Kraft, und in weniger anstrengenden Momenten fallen sie dann kraftlos in sich zusammen.
Eine alte Bekannte entpuppt sich plötzlich als wüste Paranoikerin; selbst ihr Atem riecht verrückt. Schluss damit, so will man nicht enden, nicht so. Jede Szene erreicht wie ein Bumerang irgendwann den entferntesten Punkt der Ellipse; dann geht es nur noch ums Abfangen, dann kommt sie zurück wie ein Vampir. Ein Trio von Schauspielstudenten hat sich hierher in eine Charlottenburger Kinokneipe verirrt. Zwei Männer, eine Frau, beide verliebt. Pluton, Persephone, Hermes. Dass sie sich zuhören können, ohne sich ins Wort zu fallen, dass sie alles, was sie sagen, auch meinen, dass sie auf den Tiber schwören, der an allen Katastrophen Roms vorbeifloss, die verquere unnachahmliche Art Persephones, dazusitzen und ihre Wange plötzlich auf den Handrücken ihres Freundes zu legen: Alles an ihnen ist revolutionär. Sie gehen so zärtlich miteinander um wie junge Katzen. Sie sind, was sie waren, unschuldig, zu allem bereit. Wenn sie nur Terroristen würden. Warum gibt es keine Terroristen mehr in Deutschland ? Das Bewusstsein der Menschen zu überfallen war bis in dieses auslaufende Jahrhundert hinein Sache der Kunst. Aber diese Rolle hat längst der Terror, gleich welcher Provenienz, übernommen. Politischer Terror, irrationaler Terror, Kamikazeterror – das ist nicht zu überbieten.
Was den saturierten, verblödeten, vulgären okzidentalen Kulturmenschen mehr erschüttert als alles andere ist die Tatsache, dass es Leute gibt, die sich einer Sache opfern, die sie für gerecht halten. Je unbegreiflicher ein Terrorakt ist, desto größer der Thrill, den diese ewig Passiven empfinden; sie sind von derselben Sorte wie die, die sie verachten, weil sie sie bewundern müssen, nur unendlich viel feiger. Man muss nicht einmal mehr Misanthrop sein, um dieser Kultur den letzten Gruß zu erweisen. Der Schwanengesang läuft längst auf allen Programmen, die direkt in das Gehirn münden wie ein Abwasserkanal, und ein Wetterleuchten durchzuckt, wie immer, die letzten Nächte. Werden wir alle enden wie die untoten Struldbrugs in „Gullivers Reisen“?: Ichsüchtig, eitel, sinnlos böse?
Aber am Ende marschieren die drei Schauspielstudenten wie Zinnsoldaten davon: Pluton seine Percy fest im Griff wie eine abtrünnige Sklavin, weil der steinerne Gast ihr heimtückisch einen Antrag gemacht hat, den sie unmöglich annehmen konnte. Daylight. Ein Modefotograf am Nebentisch beschreibt einem Mädchen, das offenbar selbst Ambitionen hat, den Körper eines seiner Modells – und er tut das sehr charmant. Selbst sein Handy ist verspiegelt. Alles, was er sagt, versickert für immer in ihrer glucksenden Glückseligkeit.
Schöne Männer sind noch weniger in der Lage, ihre Eitelkeit zu verbergen als schöne Frauen. Wenn man ein unsichtbares Netz über die Bleibtreupassage spannen würde, in dem sich nur die Schönheit verfängt: Man hätte viele Nächte lang zu tun. Aber es gibt immer jemanden, der gerade dort ist, wo du nicht bist, und auf dich wartet – den gleichen Gedanken im Kopf. Das ist das düstere Prinzip des ruhelosen Suchers. Deswegen ist er an keinem Ort gern gesehen.
Denn sie wittern mit der Instinktsicherheit der Sesshaften: Er wird nicht bleiben, denn nicht wir sind es, die er sucht. In der Bar Gainsbourg am Savignyplatz sitzt ein Heiner-Müller-Double. In der Paris-Bar gibt es ein lebensgroßes Foto von Ben Gazzara und einen unglaublich sympathischen libanesischen Kellner. Hier versuchte sich vor einiger Zeit, zum Schrecken des österreichischen Wirts, eine Clique russischer Mafiosi zu etablieren. Aber die Wasserhähne auf den Toiletten sind nicht vergoldet, sondern verrottet, ganz wie zu Hause. Also strichen sie die Segel. Arabia felix.
Ein langhaariger ergrauter Assi im Leinenjackett, der seine beiden Tischgenossinnen schon weidlich langweilte, kauft einem Pakistani einen batteriebetriebenen Gartenzwerg ab und lässt ihn auf dem Tisch tanzen – das hält er für Sarkasmus. Ich verliere endlich die Nerven, schnappe mir den Gartenzwerg, zerschmettere ihn und trete rasend auf ihm herum: Rausschmiss, Hausverbot. Höflich dankend nehme ich an.
Es war schwül diese Nacht, und die Taxis lagerten mit offenen Türen an der Straße wie schlafende Haie an einem Riff, die Kiemen in die kühlende Strömung gereckt. Hinter all diesen erleuchteten Fenstern vollzog sich die De- und Regeneration der Menschheit, the Good, the Bad and the Ugly. In der Zulu-Bar realisiert einer unseren Zustand und wünscht mir en passant Glück.
Man müsste schon ein Jean Paul sein, um diesen Salto mortale artistisch nachzuvollziehen. Das Leben schäumt aus dem Nichts auf wie eine blutige Fontäne. Manche Arten verändern sich über Jahrmillionen kaum, andere haben nur einen kurzen unscheinbaren Auftritt, andere spritzen wie Lava aus dem Rachen der Evolution und verglühen in einem grandiosen Feuerwerk. Man möchte sie halten, jede von ihnen ist es wert.
Es gibt keine Zuschauer, die Perioden sind zu lang. Das alles vollzieht sich in zahllosen Sonnensystemen in einem kometendurchschweiften Universum, wie auf Bühnen, in deren Hintergrund ein Wesen schläft, das in äonenlangen Atemzügen den Kosmos ein- und wieder ausatmet: Shiva himself, sleeping, kosmisches Flimmern, traumloser Schlaf, zitterndes dunkelglitzerndes Gallert der Fruchtbarkeit – oder ist all das der Traum dieses schlafenden Gottes, der manchmal beinahe geweckt wird durch die seltenen säurehaltigen Ekstasen irgendeines unbedeutenden Wesens, das durch seinen Schlaf geistert, mit seinem wütenden Glück den Lustnerv des Schläfers kitzelt und die Katastrophe seines Erwachens heraufbeschwört? Ich möchte in einem Land leben, wo man Anzüge tragen kann, ohne zu schwitzen, und mit Leuten über Shakespeare reden kann, ohne sich wie Falstaff fühlen zu müssen. Ehrenhafte Trottel haben schon immer viel mehr Schaden angerichtet als intelligente Schurken. Denn diese heilten im Frieden die Wunden, die sie im Krieg angerichtet hatten. Endlich finden wir ein italienisches Restaurant, das geschlossen hat, aber noch offen ist.
Dort, im abgetrennten dunklen Speisesaal küssen wir uns. Die schwarzweiß gefleckten Kellner hinter der Glaswand im Licht zucken wie Welse in einem Aquarium. Sie sehen uns nicht und wir interessieren uns nicht mehr für sie.
Thomas Findeiß ist Schriftsteller und lebt in Berlin. In diesem Jahr erschien bei Volk & Welt sein zweiter Roman „Die Heimat der Schneestürme“.
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