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■ Bei einem größeren Unfall in einem Atomkraftwerk nützen auch die Katastrophenpläne der Atomkraftwerksbetreiber nicht mehr
Hamburg (taz) – Was wie ein Sciencefictionfilm aussieht, war in den letzten Tagen in Japan traurige Wirklichkeit: Menschen werden evakuiert, hunderttausende dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen, Straßen werden weiträumig gesperrt. Auch bei uns könnte das Realität werden. Denn die Liste von Störfällen in deutschen Atomanlagen ist lang. Und schon allein wegen des riesigen Ausmaßes eines Atomunfalls ist kein ausreichender Katastrophenschutz möglich.
Der Unfall in Tokaimura beweist die Hilflosigkeit eines Atomstaates im Falle eines nuklearen Unfalls. Die japanischen Behörden waren nicht auf ein derartiges Ereignis vorbereitet. Die Hilfs- und Evakuierungsmaßnahmen liefen haarsträubend. Es fehlte an Schutzkleidung, Messgeräten und vor allem an ausreichender Information der Bevölkerung. Viel zu früh wurde Entwarnung gegeben, obwohl die Strahlenintensität weiterhin höher war als die zulässigen Grenzwerte. Atomlobby und Regierung gaukeln den Menschen vor, man habe die Risiken der Atomkraft hundertprozentig im Griff. Im Ernstfall tritt dann schonungslos die Ahnungslosigkeit der Verantwortlichen zutage.
In Deutschland verteilen die Atomkraftwerksbetreiber Broschüren an die Bevölkerung, in denen sie über Hilfsmaßnahmen informieren, falls es in ihren Anlagen zu einem Atomunfall kommt. Darin steht, was für den Fall eines Unfalls im Atomkraftwerk der Nachbarschaft geplant ist und wie man sich am besten verhält. „Ein einminütiger Heulton bedeutet: Rundfunk einschalten und auf Durchsagen achten.“ So beginnen die meisten der Broschüren.
Im Umkreis von zehn Kilometern soll die Bevölkerung bei einem Atomunfall evakuiert werden. Aber: Was passiert, wenn ich elf Kilometer entfernt wohne? Radioaktive Wolken halten sich nicht an festgelegte Zonen und Grenzen. Bei der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl wurde ein Gebiet verstrahlt, das dreimal so groß ist wie die Schweiz. Die restliche Bevölkerung wäre also den Unfallfolgen schutzlos ausgeliefert. Und wohin mit all den evakuierten Menschen? Nach Tschernobyl mussten nach einer Schätzung der Vereinten Nationen rund 400.000 Menschen Haus und Heimat für immer verlassen.
Bleibt immer noch die Frage: Wie soll die Evakuierung in der Realität funktionieren? An Sammelstellen stünden Busse bereit, die die Betroffenen aus der Gefahrenzone bringen. Wo sollen die Busse fahren, wenn die Straßen hoffnungslos verstopft sind? Menschen, die nicht in der Lage sind, sich aus eigener Kraft zu einer Sammelstelle zu begeben, wird geraten, ein weißes Laken aus dem Fenster zu hängen und so auf sich aufmerksam zu machen.
Jod soll die Schilddrüse des Menschen vor gefährlichen Strahlen schützen. Laut den Broschüren der Kraftwerksbetreiber werden deshalb im Notfall an die Bevölkerung Jodtabletten verteilt. In Hamburg, gleich vierfach umlagert von Atomkraftwerken, liegen nur 7.000 Stück auf Vorrat. Reichlich wenig für die 1,7 Millionen Einwohner. Und wer schützt die Menschen vor den anderen radioaktiven Substanzen wie beispielsweise Cäsium, Strontium, Kobalt und Ruthenium?
Die deutschen Behörden gestehen ihre Hilflosigkeit öffentlich ein. So antwortete der Hamburger Umweltsenator Alexander Porschke auf eine Anfrage von Greenpeace nach der Zulänglichkeit der Notpläne, „dass zwar die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe gering ist, bei ihrem Eintritt aber ein umfassender Schutz der Bevölkerung nicht möglich wäre und es zu Schäden von unermesslichen Ausmaß käme“.
Dass die Atomtechnologie ein nicht beherrschbares Sicherheitsrisiko ist, erkennen inzwischen selbst die regierenden Politiker an. Für Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) ist die Atomtechnologie „eine Technik, die im Falle des Versagens ganze Landstriche unbewohnbar machen kann“. Laut einem internen Papier des Bundesumweltministeriums vom August dieses Jahres hätte ein größter anzunehmender Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk mehrere Millionen Tote und einen Schaden in Höhe mehrerer Billionen Mark zur Folge. Und der Atomunfall von Tokaimura zeigt, dass auch ein Land mit einem anerkannt hohen technischen Standard die Gefahren der Atomkraft nicht in den Griff bekommt.
Strahlenopfer in Plastiksäcken, Ärzte in Spezialanzügen, vermummte Gesichter weisen Autokolonnen den Weg. Keine Sciencefiction, sondern Realität. Bei einem Atomunfall helfen auch keine Katastrophenpläne.
Veit Bürger
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