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Atlanta, ein Pulverfass

■ Tom Wolfe liest heute aus seinem Roman „Ein ganzer Kerl“

Die Erwartungen an Tom Wolfes neuen Roman waren hoch gesteckt. Immerhin hatte der Dandy des amerikanischen Literaturbetriebs, der selten ohne weißen Anzug und Hut zu sehen ist, immer wieder den großen realistischen Gegenwartsroman gefordert. In den späten 60er Jahren war er einer der Pioniere des New Journalism. Sein Romanerstling Fegefeuer der Eitelkeiten brachte ihm Weltruhm ein – und genügend finanzielle Mittel, um sich für sein nächstes Werk Zeit zu lassen. Elf Jahre vergingen, bis 1998 A man in full erschien.

Für das Buch hat Wolfe ausgiebig in Atlanta recherchiert – einer Stadt mit weißem Establishment und schwarzer Bevölkerungsmehrheit. Die zentrale Figur ist Immobilientycoon Charlie Croker, der auf seiner Freizeitplantage die Herrenherrlichkeit der alten Südstaaten wieder aufleben lässt. Derweil schwindet nicht nur die Potenz des 60jährigen Machos: Im Zuge der Baukrise der Neunziger drohen die Kreditgeber, sein Imperium zum Einsturz zu bringen. Die Folgen bekommt auch Conrad Hensley zu spüren. Der anständige weiße Junge wird aus einer von Crokers Firmen entlassen und landet wegen einer Lappalie im Knast – inmitten schwarzer Schwerverbrecher. Protagonist einer dritten Geschichte ist Roger „Too“ White, Anwalt und Vertreter der schwarzen Mittelklasse Atlantas. Im Auftrag des schwarzen Bürgermeisters der Stadt soll er ein Pulverfass entschärfen: Ein schwarzer Footballstar hat die Tochter eines Industriellen vergewaltigt. Sollte es zum Prozess kommen, wäre ein Aufstand nicht zu verhindern.

Auf 900 Seiten verwebt Wolfe drei Handlungsstränge zu einer Story, die sich flüssig und spannend ließt. (Großartig ist beispielsweise das Duell zwischen Croker und einer Inkassoabteilung für Top-Kunden seiner Gläubiger-Bank: Was nach all den förmlichen Floskeln bleibt, ist ein ausgestreckter Mittelfinger, der den Niedergang des „ganzen Kerls“ besiegelt.) Den realistischen Roman, der die US-Gesellschaft der 90er Jahre in all ihren Facetten durchdringt, hat Wolfe hingegen nicht vorgelegt. Die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung etwa spiegelt er lediglich über die „fremden“ Blickwinkel des erfolgreichen Anwalts und des weißen Underdogs. Im Zusammenhang mit den befürchteten Rassenunruhen bleibt sie ein bedrohliches Mysterium. Michael Müller

heute, 20 Uhr, Kammerspiele; Tom Wolfe: „Ein ganzer Kerl“. Roman. Kindler Verlag, München 1999, 928 Seiten, 54 Mark

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