: Das finstere Herz des Chansons
■ Das Theater Zerbrochene Fenster zeigt und singt „Lily Passion“
Mein intimes Verhältnis zum französischen Chanson begann vor meiner Geburt, als meine Eltern zähe Verhandlungen über meinen Vornamen führten. Meine Mutter, die damals „Bonjour Tristesse“ von Françoise Sagan las und die gleiche Frisur trug wie Jean Seberg in „Außer Atem“, plädierte vehement für Natalie (Gilbert Bécauds sexy kommunistische Fremdenführerin). Natalie, was deutsch ausgesprochen ausgesprochen komisch klingt, setzte sich aus genau diesem Grund aber nicht durch.
Zwanzig Jahre später wohnte ich ein Jahr in Dijon und stellte verwundert fest, dass sich das Chanson, dieses 50er-Jahre-Ding mit Mireille-Mathieu-Renaissance in den späten 70ern, steter generationen- und klassenübergreifender Beliebheit erfreut. Nicht nur im „Chez nous“, einer von Soixante-Huitards (68er) und trendsettenden Kunststudenten frequentierten Lokalität, zogen Patron und Patronne zu später Stunde die Schifferklaviere unter der Theke vor und spielten Chansons, die das ganze Lokal mit schwerer Zunge mitsang. Auch hartgesottene HipHopper horteten in ihren Plattensammlungen stets ein paar Scheiben Leo Ferré oder Edith Piaf. Kurz: Das Chanson erwies sich als moderesistenter Bestandteil nationaler Stimmungsduseligkeit.
Solcherart biografisch gerüstet begebe ich mich ins Theater Zerbrochene Fenster zu „Lily Passion“, einem Lieder- und Theaterabend um die große Chansonnière Barbara. Barbara verstarb 1997 und hinterließ nicht nur solch glanzvolle Völkerverständigungsnummern wie den Song „Göttingen“ (1963), sondern eben auch die Geschichte der „Lily Passion“, die sie einst zusammen mit dem Nationalheiligtum Gérard Dépardieu erarbeitet hat.
Lily ist ein müder Chansonstar und begegnet eines Abends beim einsamen Abgang über die Hinterbühne ihrem größten Fan, einem Serienmörder. Die beiden tauschen Kindheitserinnerungen aus, stellen fest, dass ähnlich dunkle Leidenschaften und verzweifelte Persönlichkeitsspaltungen ihr Berufsleben durchziehen – und fallen sich schließlich, bebend Liebe schwörend, in die Arme. Voilà. Ein tiefer Blick ins finstre Herz des Chansons, aus dem vielleicht ein hübscher Konzertabend hätte werden können: Das musikalische Ensemble unter der Leitung von Tobias Morgenstern spielt brav, aber tadellos, und in Bärbel Röhls Interpretation der Barbara-Chansons schwingen hintergründige Kühle und leises Augenzwinkern mit. Doch Regisseur Johannes von Westphalen hat Chanson und Theater zu einer komplett unglamourösen Länglichkeit verschweißt. Das Theater verstärkt nicht die Intensität der Lieder, sondern frisst sie auf. Timo Semik gibt den Serienmörder zwar als hüftwackelnder Tangojüngling, will aber trotzdem der Vokabel Inbrunst bloß die tragische Facette abringen.
Immerhin sendet Bärbel Röhls gereifte Diva, die mit neurotischer Contenance eine riesenhafte Sonnenbrille tragen und sich „choreografisch“ auf dem Boden wälzen muss, hin und wieder ein maliziöses Lächeln ins Publikum. Wo die verpasste Natalie in Sachen Chanson einen biografischen Tiefschlag verzeichnen muss. Eva Behrendt
Weitere Vorstellungen vom 14. bis 18. und 21. bis 25.Oktober, 20 Uhr, im Theater Zerbrochene Fenster, Schwiebusser Str. 16
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