Schlagloch
: Nachsommer im Feuilleton

■ Von Mathias Greffrath

Das Scheitern des klassischen Humanismus ist eine schlichte Tatsache

„Dass es zwischen Politik und Leben einen gemeinsamen Nenner gibt, glauben jetzt nicht einmal mehr die Intellektuellen, deren Aufgabe es war, sich hierüber öffentlich Illusionen zu machen.“ (Peter Sloterdijk, Eurotaoismus, l989)

Das „grenzenlose Missverhältnis zwischen den Kompetenzen der Politik und den Erfordernissen des Wirklichen“ treibt sensible Politiker in die Abdankung und sensible Wähler in die Enthaltung.

Wer aber bleibt, der schrödert: muss denken und verkörpern, dass kein Problem ist, wo keine Lösung winkt. Unaufhaltsam der Prozess, in dem eine Wirklichkeit, die zu korrigieren niemand die Macht spürt, nicht mehr gedacht wird – nicht einmal mehr in der zum Feuilleton geschrumpften „räsonnierenden Öffentlichkeit“.

Das ist der Lernerfolg der so genannten Sloterdijk-Debatte. Worum drehte sich der Schaumgang eigentlich, außer um die süchtige Suche von Chef- und Feuilletonredakteuren nach „Kulturkämpfen“, die die „Berliner Republik“ und die Auflage bewegen („es muss doch einen Punkt geben, sonst würden wir nicht streiten“), außer um Alphatierrivalitäten in der Suhrkamp-Kultur, die ödipale Enttäuschung eines 55-jährigen Philosophen, den langen Abschied eines älteren von der zivilen Hoffnung, das sanfte Denken allein werde die harte Macht erweichen?

Es ist völlig offen, ob eine „explizite Merkmalsplanung“ durch Gentechnik, hinter die Sloterdijk ein Fragezeichen setzt, jemals möglich sein wird (zur Zeit spricht sehr wenig dafür). Im Text der Elmauer Rede steht zudem auch keine Aufforderung zur Menschenzüchtung, wenn man nicht Platons Metaphern und Nietzsches Aphorismen in die barbarische Realität des 20. Jahrhundert projiziert. Stattdessen wird dort die schmerzhafte Frage verhandelt, wie man „Humanität“ noch verbindlich begründen kann, wenn alle Legitimationssphären sich aufgelöst haben: Gott tot ist, der anthropozentrische Humanismus durch seine Mobilmachungsprojekte ruiniert, „Weisheit“ nicht länger in Institutionen wurzelt, sondern nur noch in Individuen überlebt. Oder, weltnäher: wenn die Politik zum Subsystem der Wirtschaft, die Universität zum Zulieferbetrieb des Standorts, die Kunst zum Ornament am Marketing geworden ist, wenn Öffentlichkeit durch die Koalition der Modernisierer ruiniert ist, die Moral zum Provinzialismus erklärt und keine prinzipielle Grenze der totalitären Weltverbesserung durch Konsum mehr diskutierbar ist. Dann werden die „Mobilmachungen“ und „Menschenzüchtungen“ möglich, deren Zeugen wir sind: vom Turbofeudalismus, der ganze Kontinente aus der menschlichen Gemeinschaft ausgrenzt, über die rasende Stillstellung von Milliarden mit medialem Junkfood und anderer Pornographie bis hin zur biomedizinischen Selbststeigerung der neuen Mitte.

Man könnte auch fragen: Was tritt an die Stelle der Kontrollfunktion von intellektuellen Traditionshütern, wenn die Kirchen leer, die Universitäten industrialisiert, die Intellektuellen angestellt, die semantischen Potenziale der Kunst (Habermas) verschleudert sind? Etwa der Markt? Wie ist „Kritik“ – als ein verbindliches Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst – noch möglich, wenn die Räume, in denen sie sich an starke Gefühle und gelebte Formen bindet, verschwinden: ob Nachbarschaft, Kommune, Kirche, Akademie oder Forum? Woher – so fragt der dunkel formulierte, aber einfach konstruierte Vortrag, so fragt Sloterdijk noch beschwingter im „Eurotaoismus“ von l989 – woher soll Weisheit diesseits eines unbelehrten Fundamentalismus kommen, wenn alte Schulen, Große Weigerungen und kleine Katastrophen die Mobilisierungszivilisation nicht bremsen und kein „neues Wir“ (Nietzsche) den stärksten Sprengsatz entschärft: die konsumistische Monade, den individualistischen Eigensinn, das freigesetzte sterbliche Subjekt?

Was macht den Sloterdijk-Sound so skandalös? Ich vermute, es ist der „amoralische“, sachliche Ton, der signalisiert: Kritik zieht nicht mehr, stellen wir uns drauf ein; werden wir also nach Möglichkeit stärker und fröhlicher; spielen wir mit, denn unsere Flugschriften gegen die Spielregeln liest keiner mehr. Wenn die schlimmsten Medienmoguln in ihren privaten Höhlen zugeben: Wir verwandeln die Welt in eine einzige klebrige Masse, schlimm, schlimm, aber wir können es nicht anders (cf. MEW 23); wenn tendenziell jeder alphabetisierte Mensch gespalten ist in den Kritiker und den Mitmacher, dann hat Aufklärung eine neue Aufgabe: sich selbst aufzuklären und in gelassener Positivität anzufangen – mit dem Aufhören.

In Situationen, die am besten als Lawinen beschreibbar sind, kann man sich nur individuell bewegen. Möglichst effektiv natürlich: Oskar Lafontaine hatte keinen Rückzugsberater.

Sloterdijk verweist schmerzhaft auf das intellektuelle Epochenproblem: Der aufklärerische Universalismus verzagt vor seiner Analyse, weil man, ihr folgend, sehr viel mehr fordern müsste, als man sich zutraut, und weil die Konsequenzen solcher Forderungen unabsehbar wären: eine numerische Selbstbegrenzung der Menschheit; eine weltweite politische Regulierung der Kapitalströme; eine Umverteilung, bei der die „coalition of the white race“ ( Gore Vidal), die Koalition von Kapitalinteressen und neuen Mitten also, draufzahlt; eine Politik, die der psychischen Enthemmung und den Analphabetisierungskampagnen etwas entgegensetzt usf. Wer wagt sich noch daran, zu einer Politik gegen die permanente kapitalistische Weltrevolution aufzurufen, nach den Erfahrungen des Jahrhunderts?

Sloterdijk steht in der Erbschaft von Marcuses Großer Weigerung, die individualistisch, sensualistisch, ohne Ironie und ohne Garantie war, auf die Kraft des Ausdrucks und eine unterhalb der abendländischen Rationalität liegenden, auch biologischen Vernunft (oder ihre theologische Umformulierung) vertraute. Zugegeben: Das ist „Großdenken“, das ist konservativ, aber warum ist es rechts?

Worum ging es eigentlich in der so hitzigen Sloterdijk-Debatte?

Da Feuilleton eigentlich nicht weh tut und Denken nur Probehandeln ist, sehe ich – neben dem Neid auf diese brillante Neologismenschleudermaschine Sloterdijk – nur einen nicht zynischen Grund für das Vermeidungsdenken in der aktuellen „Debatte“: die Hoffnung, dass das lernfähige Kapital und die parlamentarische Praxis es noch einmal richten werden und europäische Lebensform nicht um ihre Erhaltung wird kämpfen müssen.

Die Erkenntnis, dass keine wie auch immer geartete „Modernisierung“, sondern nur in eine „Kehre“, „Wende“, „Weigerung“ helfen könnte, dass die riskanten existenziellen Entscheidungen vieler Millionen Einzelner und das gefährliche Handeln (möglichst aufgeklärter) Eliten nötig werden, um eine lebenswerte Welt zu sichern, erschüttert den letzten Rest Kindlichkeit in der Aufklärung: dass es schon gut werden wird.

Es ist vielleicht nicht von ungefähr, dass Gedanken, die sich dem aussetzen und dennoch aufs Ganze gehen (und deshalb auch schon mal daneben), oft von spät gewordnen Vätern kommen: Sloterdijk, Strauß, Lafontaine. Vielleicht kriegen die eher Angst vor dem Nichts in Atrejus Zauberwald, Zutrauen zu Momo und eine neu gewonnene „Reserve gegen die Weltzumutung, hohl zu bleiben“ (Sloterdijk).