Querspalte

■ Erstaunliche Produktivkraft

 Als freier Journalist sitzt man vormittags zu Hause und wird ständig vom Klingeln unterbrochen. Draußen stehen „Werbung bitte“, „Zeitung“ bzw. „Müllabfuhr“. Das ist ungut und führt zu einem unausgewogenen Verhältnis im Briefkasten zwischen Briefen und den Werbesendungen komischer Unternehmen. So hatte mich Das Beste entdeckt und ganz persönlich ausgewählt, an einer tollen Millenniumslotterie teilzunehmen. Ich brauchte Geld und antwortete. Ein aktuelles Freiexemplar kam gleich vorbei nebst interessanten Lotterieangeboten, einem „nützlichen Terminplaner der Extraklasse“ und einem Autoschlüssel.

 Ich klebte die drei exklusiv für mich reservierten Wertmarken in die dafür vorgesehenen Felder, schickte das weg und bekam nun jede Woche neue, immer großformatigere Qualifikationsbenachrichtigungen mit „Supersiegel“, Rubbelmechanismus, Faksimiles hoch dotierter Schecks. Immer pompöser wurde das alles. Ohne mein Zutun hatte ich diverse „aktuelle Situationen“ (Nominierungs-Etappe usw.) „abgeschlossen“ und gehörte nun zu den 6 Prozent, die beim 5-Millionen-Jahrtausendfestival teilnehmen durften. „Sofortiges Handeln“ sei „erforderlich“, „Einsendetermin: umgehend“. Eine Panorama-Kamera läge als Geschenk bereit. Die Lose seien schon gezogen, vielleicht wäre ich ja schon Millionär bzw. Zusatzrentner.

 Ich fühlte mich bedrängt, verlor die Nerven, antwortete nicht. Schätzungsweise 35 Mark hatte man für mein Glück ausgegeben, das ich ausschlug. Komplizierte Werbung mit Mitmachspaß ist eh der neue Trend. Oder auch dichtungsbegleitete Spendenaufrufe für komplizierte Krankheiten: „Wenn jeder im Dunkel der Menschlichkeit ein kleines Licht entzündete, dann wäre die Welt bald ein Lichtermeer und Leben viel einfacher.“ Die Produktivkraft der neuen Dienstleistungsmitte ist erstaunlich. Detlef Kuhlbrodt