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Der Traum nach dem Alptraum

Hamburgs nicaraguanische Partnerstadt León ein Jahr nach dem Hurrikan „Mitch“: Die Revolution ist tot, die Hilflosigkeit regiert. Der Bau eines Fußballplatzes soll Mut machen  ■ Von Oliver Lück

Täglich überquert Don Chilo den Rio Chiquito. Noch heute – knapp ein Jahr danach – sind die Folgen der Katastrophe in León lebendig. Er fährt vorbei an notdürftig zusammengezimmerten Bretterbuden, in denen Menschen schützende Plastikplanen über dem Kopf haben. Er sieht weinende Kinder, viele nur mit einer Unterhose und einem zerschlissenen Hemd am Leib, und er erblickt wie von Riesenhand geknickte Palmen. Eine provisorisch geschweißte Brücke führt über den Fluss. Die Straße in die 100 Kilometer entfernten Hauptstadt Managua war bereits nach wenigen Wochen wieder passierbar.

Don Chilo, der zu jenem Drittel der Leute zählt, das Arbeit hat, bringt in der Hauptstadt Versicherungen unter das Volk, wenngleich sich diese nur die Wenigsten leisten können. An einen wirklichen Schutz durch schriftliche Policen glaubt sowieso kaum noch jemand. Zu unerbittlich wurde den Menschen in Nicaragua die eigene Ohnmacht vor Augen geführt, zu groß ist die Ungewissheit, wann die Natur erneut erbarmungslos zurückschlägt. Brandrodung, die Ausbeutung von Edelhölzern sowie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Wirbelstürme haben das bis vor wenigen Jahren noch intakte Ökosystem Nicaraguas aus dem Gleichgewicht gebracht.

Seit Hurrikan „Mitch“ im Oktober vorigen Jahres Wolkenbrüche auslöste, die fünf Tage lang niederprasselten, die Flüsse über die Ufer treten liessen und einen großen Teil Mittelamerikas unter Wasser setzten, lähmt der Schock die Menschen. Alleine in Nicaragua forderte der Sturm über viertausend Tote, ließ über siebentausend Menschen verschwinden und zerstörte fast siebzig Prozent der Infrastruktur.

In León, Don Chilos Heimatstadt, blättert die Farbe im Gesicht eines Carlos Fonseca oder eines Augusto C. Sandino symbolträchtig von den Häuserfassaden. Anderen Ortes wurden die Konterfeis der historischen Revoluzzer-Helden sogar gänzlich aus dem Stadtbild und aus den Köpfen der Bevölkerung gestrichen. „Viva la revolucion“ – spätestens mit dem Amtsantritt des rechtsextremen Präsidenten Arnoldo Alemán vor drei Jahren wurde dieses Motto zum Irrglauben.

Auch wenn das sandinistische León rot blieb, die Jugendlichen – rund die Hälfte der viereinhalbmillionen NicaraguanerInnen sind jünger als sechzehn Jahre – haben keine Erinnerungen an die Zeiten des Widerstands, und der 19. Juli – Tag der Vertreibung des Diktators Somoza 1979 – ist bestenfalls zu einem willkommenen Feiertag verkommen.

Die einstige Aufbruchstimmung ist dem Schwermut gewichen. Das durch Mitch ausgelöste Wasser- und Schlamm-Chaos des Chiquito und des El Pocheto, die sich durch die mit 125.000 EinwohnerInnen zweitgrößte Stadt des Landes schlängeln, riss Häuser und Autos mit sowie über einhundert Menschen in den Tod. Plantagen und Felder in der Umgebung – Früchte jahrzehntelanger Aufbauarbeit – wurden weggeschwemmt. Besaß man vorher nicht viel, hat man nun gar nichts mehr. Den Alltag, hitzeschwanger und gleichmütig, gibt es nicht mehr.

Auch Don Chilo ist unruhig, wenn er am Abend nach Hause kommt, die Zukunft vor Augen. Als Stadtteilvorsitzender von Fundeci, einem Viertel, in dem sich die Masse der Armen drängt, engagiert sich der dreifache Familienvater daher direkt vor seiner Haustür. Längst hat auch die Alcaldía, die städtische Gemeindeverwaltung, erkannt, dass insbesondere die sozial- und erziehungspolitischen Aspekte in diesem „Barrio“ (Stadtbezirk) verstärkt unterstützt werden müssen. Viele im Viertel sind ohne Schulbildung und somit ohne Chance auf einen Job. Ewige Langeweile bei Staub und Hitze, eine Jugend in Fundeci.

Die Gewaltbereitschaft und die Kriminalität sind spürbar. Einrichtungen wie Jugendhäuser oder Spielplätze könnten dieser Entwicklung durchaus entgegenwirken, aber es gibt keine. Subventionen für den Aufbau sind aus der Stadtkasse kaum möglich, so dass in der Vergangenheit mitunter Partnerstädte wie Salzburg oder Hamburg einsprangen, um derartige Vorhaben zu realisieren. In Jugendaustausch-Projekten wurden in León seit 1991 beispielsweise ein Jugendgästehaus erbaut, das Jugendzentrum renoviert und ein Spielplatz angelegt. In diesem Sommer kam eine fünfzehnköpfige Gruppe der „Arbeitsgemeinschaft freier Jugendverbände in Hamburg e.V.“ (AGfJ) fünf Wochen zu Besuch, um sich in Fundeci am Bau einer Sportanlage mit Fußballplätzen, Klubhaus, Umkleideräumen und Duschen zu beteiligen.

Bisher hatte es im gesamten Stadtgebiet lediglich eine holprige Wiese mit Toren gegeben, auf welcher der einheimische Fußballverein FC Deportivo León – gerade in die „2a division“ (Zweite Liga) aufgestiegen – trainierte und seine Meisterschaftsspiele austrug.

„Durch diese Sportmöglichkeit sollen vor allem Kinder und arbeitslose Menschen eine Aufgabe bekommen“, begründet Ina Sylvester, 20, eine der Gruppenleiterinnen, das ungewöhnliche Entwicklungsprojekt. „Auf der Wiese, wo das Spielfeld entstehen sollte, stand ein weißes Pferd, und ein Auto fuhr einmal quer drüber“, erinnert sich die Hamburgerin an den Zustand vor Baubeginn.

Don Chilo, der vom kleinen Glück in Form eines richtigen Fußballplatzes für Fundeci schon immer geträumt und dieses Projekt zusammen mit Dirk Pesara, einem Hamburger Fußballtrainer, ins Leben gerufen hatte, stand mit Rat und Tat zur Seite. Planiermaschinen und Werkzeuge wurden mit Hilfe der Alcaldía beschafft, das Baumaterial sowie fünf festangestellte Handwerker und ein Architekt aus der eigenen Kasse finanziert. Diese war zuvor durch 10.000 Dollar Unterstützung seitens des Hamburger Senats sowie Spenden aufgefüllt worden. Mehrere Tage wurde mit Macheten das wuchernde Grünzeug entfernt. Steine schleppen, Zement anrühren, das Fundament ausheben – im subtropischen Sommer: „Selbst im Schatten war es unerträgliche 35 Grad heiß“, erzählt Mitorganisatorin Julia Eplinius.

Die Frauen und Männer im Alter von 16 bis 26 Jahren hatten jedoch weitaus mehr zu bewältigen als nur das ungewohnte Klima: Immer wieder stellten Behördengänge den Zeitplan auf den Kopf. Genehmigungen zur Beschaffung des Materials mussten ausgestellt und mehrfach unterschrieben werden. „Für eine Kopie fielen mindestens drei Unterschriften an“, verdeutlicht die 20-Jährige die in Nicaragua stets hohen administrativen Hürden. Hinzu kam das landesübliche Warten, in Nicaragua ein Hauptbestandteil des öffentlichen Lebens. Jemanden warten lassen, heißt seine Macht demonstrieren.

Doch damit nicht genug. Eines Nachts wurde der Schlaf der Stadt jäh unterbrochen, als plötzlich der Boden bebte. Bis zu 90 Mal erzitterte die Pazifikregion, der gewaltigste Erdstoß mit einer Stärke von 4,7 auf der Richterskala. „Es bewegte sich alles, was sich eigentlich nicht bewegen durfte“, schildert Julia, „mein Kreislauf hat noch Wochen danach verrückt gespielt.“ Nur wenige Stunden später wüteten zudem drei nahgelegene Vulkane gleichzeitig und spuckten Asche über León. „Bevor wir die Gefahren dieser Nacht verstanden hatten, war alles schon wieder vorbei“, beschreibt Ina die kollektive Verwirrung. Durch die Vibrationen entstanden nur geringe Sachschäden. Der Lebensnerv wurde im durch diese häufig auftretenden Naturereignisse geplagten Land dennoch schwer getroffen.

„Die Menschen haben den Glauben an sich verloren“, meint Ina, „manchmal helfen aber sogar die einfachsten Dinge wie ein Sportgelände, schlimme Erfahrungen zu bewältigen und Optimismus zu entwickeln.“ Insbesondere der Fußball könne der Verbundenheit und dem Selbstbewusstsein von großem Nutzen sein.

Don Chilo lebt mit seiner Familie nur einen Einwurf entfernt und wird gewiss des öfteren am neuen Bolzplatz vorbeischauen. Krakeelende Kinder, temperamentvolle Ausbrüche erwachsener Kicker und die Anfeuerungsrufe der Zuschauer werden ihn kaum stören. Denn erst dann hat sich sein Traum wirklich erfüllt.

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