Madonna und die Aura der Speicherstadt

■ In Bremen gibt es für Stadtplaner viel zu tun. Und dies nicht nur in den alten Häfen. Bei einem EU-Symposion tauschten sich PlanerInnen aus ganz Europa über ihre Erfahrungen mit „Kultur und Stadtentwicklung“ aus

Am Horizont dampft der Schornstein des Kraftwerks Hafen. Von der Durchfahrt in der Weserburg – da, wo die RaucherInnen stehen, wenn sie sich zu einer Tagung im Museum aufhalten – ist er gut zu sehen. Zwischen rauchendem Schornstein und Raucherpause erstreckt sich eine etwa sieben Kilometer lange Fläche der alten Häfen rechts der Weser. Und glaubt man Detlef Kniemeyer, dem Leiter des Bremer Planungsamtes, „werden wir (die Bremer; Anm. d. Autors) dort möglicherweise in 20 Jahren auch etwas Spektakuläres haben“. Das Wort „spektakulär“ hört man eher selten von Kniemeyer, der sonst lieber in den (angeblich) bescheidenen Bremer Dimensionen spricht und wohl auch denkt. Doch offenbar hat auch er sich etwas anstecken lassen von den BesucherInnen aus der französischen Stadt Roubaix, aus Venedig und Rom, Wien und Lissabon, die am Wochenende bei dem von der Bremer Gewoba unterstützten EU-Symposion und Pilotprojekt „Euromusées 2001“ ihre Erfahrungen zum Thema Kultur und Stadtentwicklung austauschten.

Die Tagesordnung für StadtentwicklerInnen in Bremen ist lang. Allein in der Nähe der Altstadt warten aufgegebene Immobilien der Post, der Rembertikreisel, die „umgedrehte Kommode“, die Lücke auf dem Teerhof oder der riesige Güterbahnhof auf eine neue Nutzung. Hinzu kommen die im Vergleich zum Güterbahnhof tatsächlich spektakulär großen Flächen der alten Häfen. Allein Bremen befindet sich mit diesen Hinterlassenschaften von industrieller Revolution, Schwerindustrie-Zeitalter und Planungsfehlern der Nachkriegszeit in bester Gesellschaft. Was in Bremen die Häfen sind, ist in Wien unter anderem das Gaswerk Simmering, ist in Lissabon das Tejo-Uferviertel Alcántara, in Rom ein Teil des Quartiere Ostiense und in Roubaix – dramaturgische Steigerung! – die komplette Stadt.

Das etwa 20 Kilometer nördlich von Lille gelegene Roubaix war ein Dorf. Mit der industriellen Revolution kamen Textilfabriken und schnellte die Einwohnerzahl in der ersten sozialistisch regierten Stadt Frankreichs von 6.000 im Jahr 1800 auf 125.000 am Ende des Jahrhunderts hoch. Doch wenige Jahrzehnte später war Schluss mit Boom, Roubaix wurde das Bremerhaven Frankreichs mit hoher Arbeitslosigkeit, negativer Anziehungskraft und null Zu-kunftsperspektive. „Noch vor einigen Jahren war Roubaix die grässlichste Stadt des Landes“, erinnert sich Bruno Gaudichon, der seither mit anderen dafür sorgt, dass das Unmögliche möglich und der Ruf von Roubaix besser wird.

Roubaix war einmal das Bremerhaven Frankreichs. Jetzt hat die Stadt wieder ein besseres Image

Anders als etwa Bilbao mit seinem glitzernden Guggenheim-Neubau setzen die StadtplanerInnen in Roubaix auf das Vorhandene. Ähnlich von EU und Staat mit Sanierungsgeldern und Steuererleichterungen ausgestattet wie Bremen und Bremerhaven, haben die PlanerInnen in Roubaix das nötige Kleingeld für eine organische Weiterentwicklung der schon als völlig verloren bezeichneten Stadt. Der Umbau eines alten öffentlichen Schwimmbades – einst das Schönste in Frankreich – zu einem Museum und Kulturzentrum knüpft mit einem seiner Themenschwerpunkte Textildesign an die Geschichte der Stadt an und wirkt zugleich als identitätsstiftende Initialzündung für das neue Roubaix. Teurere Eingriffe wie die Neugestaltung des Marktplatzes und preiswertere Programme wie die Sanierung der Fassaden haben das Image der Stadt aufpoliert. Dieser Mix sorgt dafür, dass sich Unternehmen, die im nahen Lille keinen Platz mehr finden, in Roubaix ansiedeln. Doch allein mit bunten Fassaden und Kultur ist noch keine Stadt zu retten. Gaudichon weiß: „Man braucht große Investitionen und keine homöopathischen Dosen, um den Verfall aufzuhalten.“ Mit so genannten Factory outlets und einem geplanten Hypermarkt in der City haben sich die PlanerInnen in Roubaix Investoren in die Stadt geholt und wenden sich dabei vom Konzept „Einkaufszentrum auf der grünen Wiese“ ab.

Auch in Lissabon stand am Anfang ein Industriedenkmal und kam kurz danach die Kultur. Lissabons Schlachte heißt „Alcántara“ und ist freilich viel größer. „Der Hafen war wie eine Barriere, der einen Zugang zum Fluss verwehrte“, sagt Virgilio Abelaira Gomes, der Leiter des Elektrizitätsmuseums in der portugiesischen Hauptstadt. Sein Museum ist in einem ehemaligen E-Werk – einst das Größte der Stadt – untergebracht. Es informiert nicht nur über die Kunst der Stromerzeugung, sondern ist zusammen mit dem zugänglich gemachten Ufer ein neues und vor allem an den Wochenenden heftig frequentiertes Wahrzeichen der Stadt.

Das Schwimmbad von Roubaix, das E-Werk von Lissabon, das – schon wieder – E-Werk von Rom-Ostiense oder der Gasometer von Wien-Simmering, der zu einem spektakulären und schon jetzt internationale Aufmerksamkeit erzeugenden Bauprojekt mit dem Mix Wohnen, Arbeit und Freizeit wird: Die Geschichten ähneln sich. Immer ist ein nicht mehr gebrauchtes Gebäude der Aus-gangs-punkt für die Revitalisierung eines Stadtviertels. Und es ist beinahe gleichgültig, ob vom Industriedenkmal fast nur die Hülle stehen bleibt (wie in der Bremer Weserburg) oder ob antike Skulpturen und stehen gelassene Maschinen eine streitbare und auf jeden Fall spannende Partnerschaft eingehen (wie im Ex-E-Werk und der heutigen „Centrale Montemartini“ in Rom). Was vor 30 Jahren einfach abgerissen worden wäre und in den USA wohl heute noch einfach abgerissen wird, ist den Europäern Denkmal und Neuanfang zugleich. „Diese alten Industriebauten haben einen Grad an Flexibilität und Verwertbarkeit, der viel größer ist als bei anderen Gebäuden“, weiß der italienische Industriearchäologe Franco Mancuso. Doch: „Es kommt auf die Emotionalisierung solcher Gebäude an“, ergänzt Focke-Museums-Chef Jörn Christiansen. Ein Beispiel? Das kennt Uli Hellweg von der Wasserstadt GmbH in Berlin: „Die alten Hafenreviere von Göteborg wurden erst nach einem Madonna-Konzert und die dadurch gewonnene kulturelle Aura vermartkbar.“

Gut, dass manche Gebäude auch ohne Madonna schon Aura haben. In Bremen ist es zum Beispiel der Speicher XI zwischen Holz- und ehemaligem Überseehafen, der die in Sachen Spürnase immer etwas sensibleren und weitsichtigeren Leute aus der Kultur schon lange fasziniert. Mit dem Speicher und dem Gebäudeensemble in der Nachbarschaft wird etwas geschehen: Das Focke-Museum will dort eine Dependance eröffnen. Das Rundfunkmuseum braucht eine neue und das Architekturarchiv sucht eine erste richtige Heimat. Freilich ist so ein Umbau nicht einfach. Mit dem schönen Satz „Wenn wir nicht eingreifen, kann das Gebäude nicht genutzt werden; und wenn das Gebäude nicht neu genutzt werden kann, wird es verfallen“, brachte der Bremer Gottfried Zantke während der Tagung den Konflikt zwischen Denkmalschutz und RevitalisiererInnen auf den Punkt. Darüber können die Fachleute debattieren. Wir (die Bremer; Anm. d. Autors) hoffen auf eine Revitalisierung wenigstens des Speicher XI. Vielleicht ist sie der Anfang für das Spektakuläre, das Detlef Kniemeyer in 20 Jahren den internationalen BesucherInnen einer EU-Tagung in der kreisfreien niedersächsischen Großstadt Bremen zeigen will. Christoph Köster