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Geschichten, die ich eben schrieb (3): Alte Frau und Doppelhaushälfte    ■ Von Joachim Frisch

Als die junge Frau vom Einkauf zurückkam, saß die alte Frau unter dem Birnbaum auf einem Klappstuhl im Garten der Doppelhaushälfte, den Kopf leicht nach hinten, die Beine auf einem zweiten Klappstuhl, in eine dicke Wolldecke gewickelt, und schnarchte. Sie sah zufrieden aus und friedlich, ihre Anwesenheit wirkte so selbstverständlich, als sei sie ein Teil des Birnbaumes, wie der ausladende Ast, der ihr Schatten spendete. Die junge Frau war verblüfft, sie hatte die alte Frau nie zuvor gesehen, und dies war schließlich ihr Garten hinter ihrer Doppelhaushälfte. Sie und ihr Mann waren vor vier Wochen eingezogen, und die nächsten 25 Jahre würden sie jeden Monat 2.600 Mark an die Bank zahlen müssen.

Die alte Frau hörte das leise „Hallo“ der jungen Frau nicht und schlief und schnarchte weiter. Sie schien glücklich zu sein, denn auf ihrem grauen, faltigen Gesicht, das die junge Frau an Elefantenhaut denken ließ, lag ein seliges Lächeln. Die alte Frau war mindestens 80, schätzte die junge Frau. Sie traute sich nicht, die alte Frau anzuschreien, und so fragte sie die Nachbarn von der anderen Hälfte des Doppelhauses, die bereits seit zwei Jahren dort wohnten, wer die alte Frau sei. Doch auch die hatten die alte Frau noch nie gesehen.

Da kam der Mann der jungen Frau nach Hause und verlangte Rechenschaft über die Anwesenheit der alten Frau auf seinem Grundstück, schließlich zahle er sich dumm und dämlich für das halbe Doppelhaus und den halben Garten und arbeite sich dafür krumm und bucklig, sodass er erwarten könne, dass in seinem Garten keine alte Frau herumsitze, wenn er nach Hause komme und sich entspannen wolle. Er weckte die alte Frau auf und fragte sie, was sie in dem Garten zu suchen habe. Die alte Frau erhob sich mühsam und sagte, das sei ihr Birnbaum und sie habe schon immer unter diesem Birnbaum ihren Mittagsschlaf gehalten. Da sagte der Mann zu seiner Frau: „Trag doch schon mal die Decke der alten Frau vor die Gartentür“, doch die junge Frau weigerte sich und raunte: „Wie kannst du nur so herzlos zu dieser alten Frau sein?“

„Spätestens in drei Tagen wirst auch du herzlos sein, wenn die alte Schachtel sich dann immer noch in unserem Garten breit macht“, antwortete der Mann schroff. „Alzheimer“, murmelte er noch hinterher, „Unmensch“, murmelte die junge Frau. „Wer wollte denn das beschissene halbe Haus mit dem beschissenen halben Garten im beschissenen Grünen?“, kreischte der Mann nun und brüllte, dafür, dass dann überall verkalkte alte Tanten herumlägen und schnarchten, schufte er sich nicht halb tot.

Da mischte sich die alte Frau ein und sagte: „Ich gehe ja schon, sie sollen nicht meinetwegen streiten, auch wenn es mein Birnbaum ist“, doch der Mann erwiderte: „Sie bleiben hier! Sie haben uns das eingebrockt, und Sie bleiben, bis die Angelegenheit geklärt ist!“ Die junge Frau weinte, später ließ sie sich scheiden und verklagte ihren Ex-Mann auf Unterhalt, der daraufhin die Doppelhaushälfte mit 100.000 DM Verlust verkaufen musste, zu trinken anfing, seinen Job verlor, anonymer und schließlich bekennender Alkoholiker wurde.

Die alte Frau sah er nur noch im Delirium tremens wieder, inmitten weißer Mäuse.

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