Die Jazzkolumne: Inner Circle Blues
■ Man kennt sich im Jazz. Pflegt seine Feinde und schreibt Bücher übereinander
Howard Mandel gehört zum inneren Kreis. Er trägt Brille und signiert sein Buch mit „Hear what's happening“. Mandel ist Initiator und Chef der New Yorker Jazzkritiker-Vereinigung.
Bruce Lundvall hat bereits eine lange Karriere als Manager im Musikbusiness hinter sich. Heute ist er Chef von Blue Note Records und lässt sich gern zitieren mit dem Ausspruch: „Wir schreiben schwarze Zahlen mit Jazz.“
Michael Dorf ist Boss der legendären Knitting Factory und von Knit-Media, einem Indie-Plattenkonzern mit Alternativ-Image, der pro Woche eine CD veröffentlicht und damit längst nicht mehr zu den Kleinkrämern der Branche zählt, auch wenn die Auflagen klein geblieben sind.
Howard Mandel schreibt seit langem schon über Jazz und wurde wiederholt für seine journalistischen Beiträge ausgezeichnet. Die Knitting-Factory-Leute schätzen Mandel, aber nicht nur in dem einstigen New Yorker Avantgarde-Tempel geht er ein und aus. Auch in den großen Midtown-Hallen Manhattans zeigt er sich, wenn George Wein dort seine Mainstream-Karosserie auffährt. Mandel ist mit Lundvall und mit Dorf gut bekannt. Sein aktuelles Buch heißt „Future Jazz“, eine CD-Compilation gleichen Titels ist bei Knitting Factory Records erschienen.
Die Stücke, die auf dieser CD versammelt sind, repräsentieren jedoch nur bedingt die Schwerpunkte des Buchs. Was vor allem daran liegt, dass die Kataloge von Blue Note und Knitting Factory Records, die für diesen Sampler zur Verfügung standen, nicht das gesamte Spektrum abdecken. Und ein Problem, das bei vielen Hörbüchern offensichtlich ist, bewältigt auch diese Buch-CD-Konstruktion nicht: den Widerspruch zwischen Wunsch und Realität. Wer heute über die Zukunft des Jazz schreiben will, muss viel Phantasie bemühen, um nicht hoffnungslos zu wirken. Auf der CD hört sich die Zukunft jedoch eigentümlich vertraut an.
Die Jazzsängerin des Jahres, Cassandra Wilson – die Kritiker der amerikanischen Fachzeitschrift Down Beat gaben ihr diesmal doppelt so viele Stimmen wie einer Shirley Horn oder Abbey Lincoln –, ist nicht nur mit einem Titel ihres Blue-Note-Bestsellers „New Moon Daughter“ auf dem Sampler vertreten, auf dem Buchumschlag findet sich sogar eine Kaufempfehlung von ihr. Der andere Buchpromoter fehlt jedoch auf dem Sampler: John Zorn.
Den Jazz der letzten zwanzig Jahre sieht Mandel vor allem durch Bewegungen an den Rändern definiert, und die Drehscheibe des Geschehens ist Downtown Manhattan, New York. Das heißt, die Welt, die Mandel präsentiert und in zahlreichen Porträts und Interviewstories auffächert, spielt sich an Orten ab, die fast alle nur wenige Taxi-Minuten voneinander entfernt sind. In dieser Welt spielen Nachbarn die Hauptrollen. Und das betrifft nicht nur die Lower-East-Side-Avantgarde, so war es auch für M-Base oder Black Rock Coalition im nahe gelegenen Brooklyn.
Die von Mandel beschriebene Welt ist irgendwie schön klein und übersichtlich und manchmal fast ein wenig eng. Die Stories, die erzählt werden, sind – kurz gesagt – Geschichten von Typen, die besessen davon sind, dass ihre Musik unter die Leute kommt und richtig verstanden – sprich: ernst genommen – wird. Um beides müssen sie sich in der Regel selbst kümmern.
Auf der anderen Seite, die Mandel hier wesentlich um ein von ihm fürDown Beat geführtes Interview mit Wynton Marsalis aus dem Jahre 1984 zentriert, steht die Politik der großen Plattenfirmen. Dr. George Butler, von Anfang der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre Jazzchef bei Columbia Records, erklärt, dass er damals Wynton und Branford Marsalis aus rein kommerziellen Erwägungen heraus unter Vertrag nahm. Vor allem erhoffte Butler sich von den jungen Neotraditionalisten, dass das Nachspielen von Jazzklassikern den Katalogverkauf mit Originalaufnahmen eines Miles Davis oder Thelonious Monk ankurbeln würde. Butler lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass auch hier nur die Quote zählt. Dass sich dennoch Musiker wie Wynton und Branford Marsalis, Roy Hargrove und Terence Blanchard durchsetzen konnten, bestätigt die Regeln dieses Geschäfts.
Im Gegensatz zu Mandel hat es sein befreundeter Kollege Gary Giddins, der Superstar der New Yorker Jazzkritik, in seinem aktuellen Buch „Visions Of Jazz. The First Century“ vorgezogen, den Marsalis-Faktor komplett unter den Tisch fallen zu lassen. Bei der Diskussion um Wynton ginge es vor allem um Macht, sagt Branford Marsalis, der in Giddins nur einen weißen Jazzkritiker mit einer großen Klappe sieht. Einen von jenen in die Jahre gekommenen Liberalen aus der weißen Mittelschicht mit Vollbart und offenem Hemdkragen, die darüber bestimmen wollen, wer ein Jazzmusiker sei, was ein Jazzmusiker sei und wofür seine Musik steht. Giddins war während der vergangenen zwanzig Jahre einer der härtesten Widersacher jener konservativen Jazzpolitik gewesen, die Wynton Marsalis und sein Mentor Stanley Crouch am New Yorker Lincoln Center institutionalisiert haben. Mandel geht mit dem Mächtigen aus Midtown anders um: Er zerschnitt ein Interview aus den New Yorker Anfangsjahren von Wynton Marsalis in drei Teile, um es mit seinen eigenen Szene-Geschichten zu konterkarieren.
Eine dritte Clique, die Mandel porträtiert, handelt von Musikern wie David Murray – von dem Wynton Marsalis in dem hier abgedruckten Interview behauptet, dass ihm musikalische Bildung fehle –, „Butch“ Morris und Henry Threadgill, den Heroes einer in den 70er-Jahren zu schnellem Ruhm gelangten Avantgarde, die man auch heute noch kennt. Hier fühlt sich Mandel zu Hause, geborgen. Wo seine Sympathien liegen, bleibt auf jeder Seite klar. Er schätzt nicht besonders, was Wynton Marsalis sagt und spielt. Aber er wollte wohl auch vermeiden, dass sein Buch schneller altert als die Musik, die es besingt.
Christian Broecking
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