: Ein religiöser Scharfmacher ist Wahid nicht
■ Der Chef der größten Muslimorganisation Indonesiens ist der vierte Präsident des Landes. Berührungsängste hat er nicht. Dafür verfügt er über eine bemerkenswerte politische Flexibilität
Der Kandidat hielt den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und die Augen geschlossen: Kurz bevor das Ergebnis dieser ersten freien Präsidentenwahl Indonesiens am Mittwochmittag bekannt gegeben wurde, wirkte Abdurrahman Wahid, als sei er eingenickt.
Der Eindruck täuschte. Der 59-jährige Politiker war hellwach. Dies war der Moment seines größten politischen Triumphes: Er hatte die einzige verbliebene Konkurrentin um das mächtigste Amt des Landes, die populäre Megawati Sukarnoputri, besiegt. Bis zuletzt hatten wenige Indonesier die Kandidatur Wahids ernst genommen. Grund: Er ist fast blind und nach zwei Schlaganfällen schwer gebrechlich.
Der Politiker gehört seit langem zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes. Er ist Chef der größten muslimischen Organisation Indonesiens, der „Gemeinschaft der Religionslehrer“ (Nahdlatul Ulama, NU). Sie vertritt einen traditionellen javanischen Bräuchen gegenüber aufgeschlossenen Islam, der vor allem auf dem Lande und im Osten der Insel Java verankert ist. Was Wahid besonders auszeichnet: Er hat die von religiösen Scharfmachern geschürten Übergriffe auf christliche Kirchen oder chinesische Geschäfte stets verurteilt. Einen islamischen Staat lehnt er strikt ab.
Unter dem frühreren Präsidenten Suharto, der 1998 zum Rücktritt gezwungen wurde, nahm Wahid zur Freude ausländischer JournalistInnen kein Blatt vor den Mund: Er kritisierte offen Korruption und Habgier der Ersten Familie und ihrer Höflinge.
Privat ist Wahid vielseitig interessiert: Er liebt Beethoven und hat eine große CD-Sammlung mit Werken des Komponisten. Mit interessierten Besuchern aus Deutschland debattiert er leidenschaftlich gern die Ergebnisse der Fußballbundesliga.
Lange Zeit zählte er zu den engsten politischen Vertrauten Megawatis, die er gestern „meine Freundin“ nannte. Selbst seine Freunde bezeichnen ihn allerdings als Meister der politischen Manipulation. Er hat keinerlei Berührungsängste, auch nicht gegenüber der Armee. Und er scheut sich nicht, sich selbst zu widersprechen: So unterstützte Wahid bei den Parlamentswahlen von 1997 die Kandidatur der ältesten Tochter Suhartos und trat mit ihr sogar bei Wahlkampfveranstaltungen auf. Nach dem Sturz Suhartos besuchte er den alten Diktator mehrfach in seiner Residenz.
Anderes Beispiel für die bemerkenswerte Flexibilität Wahids: Mit dem früheren Chef der zweitgrößten indonesischen Muslimvereinigung, „Muhammadiyah“, Amien Rais, verband ihn jahrelang eine intensive Feindschaft. Er warf Rais vor, ein gefährlicher Opportunist zu sein und den Islam als politisches Sprungbrett zu benutzen.
Inzwischen ist Rais Sprecher der Beratenden Volksversammlung. Ironischerweise war er es, der Wahid jetzt als Präsidentschaftskandidat nominierte und ihm half, die Voten der in einer so genannten „Zentralachse“ verbündeten kleineren Muslimparteien zu gewinnen. Viele von ihnen wollen keinen sekulären Staat. Wenn er mit ihnen regieren will, muss er seine alten Prinzipien möglicherweise sehr beugen.
Wahid stammt aus einer bekannten Dynastie muslimischer Geistlicher: Sein Großvater gründete die Nahdlatul Ulama (NU) im Jahr 1926, er selbst übernahm den Vorsitz dieser größten nationalen Muslimgemeinschaft der Welt von seinem Vater. Seine Ausbildung erhielt Wahid zunächst an indonesischen Islamschulen, später studierte er in Kairo und Bagdad islamisches Recht. In Kanada setzte er seine Studien fort.
Viele Indonesier fragen sich, ob der populär „Gus Dur“ (Gus ist ein Ehrentitel) genannte Wahid seiner Aufgabe gewachsen sein wird: Er ist nicht nur gesundheitlich angeschlagen, sondern wirkt in seinen Äußerungen in letzter Zeit oft erratisch. So machte er für den Verlust Osttimors nicht etwa die Brutalität der indonesischen Militärherrschaft in der annektierten Provinz verantwortlich, sondern das Angebot seines Vorgängers Habibie, ein Referendum abzuhalten. Die Intervention der internationalen Truppen in Osttimor lehnte er ab: „Wir sind doch keine Nation von Kakerlaken.“
Nun richtet sich das Augenmerk darauf, wen Wahid als seinen Vizepräsidenten vorschlägt, der heute gewählt wird. Im Gespräch ist Golkar-Chef Tanjung Akbar. Anhänger der unterlegenen Megawati hoffen jedoch, dass er ihr die Position anbietet. Nach seinem Sieg bot Wahid ihr versöhnlich die Hand und erklärte, dies sei „unser Sieg“ und „unsere zweite Unabhängigkeit“. Jutta Lietsch
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