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Hier ist immer jemand da“

Wo die Stasi früher „Asoziale“ verhörte, finden Obdachlose eine einzigartige Betreuung    ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova (Text) und Hans-Peter Stiebing (Fotos)

eit zehn Jahren bestimmt der Suff sein Leben. Der Alkohol hat ihm alles genommen: die Frau, die Wohnung, die Arbeit als Kraftfahrer, die Aussicht auf ein normales Leben. Geblieben ist ihm der verheißungsvolle Name „Jesus“, den ihm seine Kumpels vom Bahnhof Zoo wegen seiner langen, weißen Haare und seiner Hilfsbereitschaft gegeben haben; und die vage Hoffnung, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen.

Dieses Leben des 37-Jährigen Pasewalkers, einer kleinen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, ist eine Anreihung trauriger Rekorde: Vierzigmal hat er versucht, vom Saufen loszukommen, die Zahl seiner Knastaufenthalte wegen Zechprellereien, rasanten Autofahrten, Diebstählen und Schlägereien lässt sich nicht genau beziffern. Kaum war er wieder draußen – nie länger als anderthalb Jahre am Stück – war er wieder im alten Trott. Die letzten acht Jahre lebte er am Bahnhof Zoo. Wer dort länger lebt, hat die „Fahrkarten in den Knast nach Tegel“ gelöst. Hier soff und schnorrte er mit seinen Kumpels.

Den einzigen Ausweg sah Jesus darin, sich das Leben zu nehmen. Fast auf den Tag genau vor drei Jahren schrieb er einen Abschiedsbrief und sprang vor die U-Bahn. Als er nach einer Woche aus dem Koma aufwachte, merkte er, dass er statt seines Lebens seinen rechten Arm verloren hatte. Er griff wieder zur Flasche. Doch die Verzweiflung ließ sich nicht auf Dauer betäuben. Er sprang von einer Brücke in die Spree. Doch auch das schlug fehl. Einziger Trost waren wieder der Alkohol und seine Saufkumpane.

Vor 14 Tagen war es wieder so weit: Jesus konnte nicht mehr. Doch statt erneut eine Reise ins Jenseits zu unternehmen, schleppte er sich zur Bahnhofsmission am Zoo. „Ich konnte nicht mehr laufen“, erzählt er. „Meine Beine waren entzündet, und ich hatte bis zum Umfallen gesoffen.“ Weil er seit Jahren keine Papiere mehr hat und nicht versichert ist, brachte ihn eine Krankenschwester auf die Krankenstation für wohnungslose Menschen mit angegliedertem Übergangswohnheim in die Magdalenenstraße in Lichtenberg. Im vergangenen Winter war er schon zwanzigmal angemeldet, ging aber nie hin.

Dort bekommen Obdachlose, die in der Regel von ambulanten Ärzten überwiesen werden, medizinische und sozialpädagogische Hilfe, die einzigartig in Berlin und Deutschland ist: Sie werden auch ohne Papiere aufgenommen und behandelt, erst danach wird das zuständige Bezirksamt ermittelt und die Kostenübernahme geklärt. Dieses für Obdachlose ausgesprochen unkomplizierte Prozedere ist extrem niederschwellig. In erster Linie geht es um die Bedürfnisse der Obdachlosen. Deshalb verbietet ihnen niemand das Rauchen auf der Station.

Auch die Behandlungszeiten sind flexibel. „Die Regeln hier sind nicht so streng“, sagt Krankenschwester Ilona Billerbeck. „Die normalen Krankenhausgefüge können für Leute, die auf der Straße leben, eine Qual sein.“ Es wird auch keinem zugemutet, allein Behördengänge zu erledigen und Gefahr zu laufen, abgewimmelt zu werden und wieder am Bahnhof Zoo zu landen. Und das Allerwichtigste: Die 16 Mitarbeiter zeigen ihnen Perspektiven für eine Zukunft. Es liegt an den Obdachlosen, diese anzunehmen.

Um die mitunter komplizierten Behördengänge und bürokratischen Hindernisse müssen sie sich nicht kümmern. Das machen die Mitarbeiter der Einrichtung. Nicht selten kommt es vor, dass Bezirksämter per Gerichtsbeschluss zur Zahlung des Tagessatzes von 140 Mark und 6 Pfennig verdonnert werden oder ein Grauer Star erst dann behandelt wird, wenn das Bezirksamt nach zähem Ringen einer Notfalleinweisung zustimmt. „Die Begeisterung, für Obdachlose zu zahlen, die nicht bei ihnen gemeldet sind, hält sich in Grenzen“, weiß Sozialarbeiter Christof Thiel.

Die Auslastung der 16 Krankenbetten und 18 weiteren Betten im Übergangsheim spricht für den Erfolg der Station, auch wenn knapp 30 Prozent der Klienten wieder auf der Straße landen und sich nicht an Pflegeeinrichtungen, betreute Wohngemeinschaften oder Notübernachtungen vermitteln lassen wollen. Seit Bestehen wurden pro Jahr etwa 180 Obdachlose in dem Projekt der Berliner Stadtmission betreut. 14 Prozent von ihnen haben das Angebot angenommen, wenige Treppenstufen höher in das Übergangswohnheim zu ziehen.

Wie die Patienten und Bewohner blickt auch das Haus auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Wer auf dem Hinterhof steht, blickt auf den ehemaligen Sitz der Staatssicherheit samt der berüchtigten Untersuchungshaftanstalt. Die Stasi nutzte das heutige Obdachlosen-Wohnheim für Verhöre mit Republikflüchtlingen und anderen „asozialen Elementen“. Heute erinnert daran nur noch eine Doppeltür vor einem der Krankenzimmer, durch die kaum ein Geräusch nach außen dringt. Die Ironie der Geschichte will es, dass hin und wieder Obdachlose in der Krankenstation landen, die am gleichen Ort Bestrafung statt Hilfe erfahren haben. Als das Gebäude nach dem Untergang des Mielke-Imperiums einige Zeit leerstand, zog eine Umweltfirma ein, die jedoch kurze Zeit später pleite ging. Weil die Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) einen Leerstand verhindern wollte, schlug ein TLG-Mitarbeiter, der Kontakt zur Obdachlosen-Beratungsstelle des Diakonischen Werkes in der Levetzowstraße hatte, eine auf einige Jahre begrenzte, mietfreie Nutzung vor. So wurde im Januar 1994 im Rahmen der „Kältehilfe“ die Notunterkunft eingerichtet. Weil die „Kältehilfe“ jedoch mit Ablauf der Wintermonate für gewöhnlich endet, machten die Obdachlosen mobil. Sie wollten die Einrichtung auch im Frühjahr, Sommer und Herbst nutzen. Die symbolische Besetzung hatte Erfolg. Seitdem steht das Haus Hilfsbedürftigen das ganze Jahr über zur Verfügung. Träger ist seit drei Jahren die Stadtmission. Finanziert wird das Haus von den Bezirksämtern und aus Spenden. Die Kosten liegen in einem regulären Krankenhaus um ein Vielfaches höher und beinhalten kaum sozialpädagogische Versorgung.

Für Langzeitobdachlose wie „Jesus“ ist die Magdalenenstrasse 15 die letzte Rettung. „Das ist die erste Station, wo ich mich wohl fühle und sehe, dass es vorangeht“, sagt er. Mittlerweile ist sein offenes Bein fast verheilt, seit einigen Tagen hat er wieder einen Ausweis. Er ist begeistert: „Hier ist immer jemand da, der zuhört.“ Doch er weiß auch, dass es letzten Endes von ihm alleine abhängt, ob er durchhält. Noch ist der Bahnhof Zoo zu weit weg von der Magdalenenstraße. Doch zum Jahresende ist ein Umzug in die Lehrter Straße im Tiergarten geplant; das Heim platzt aus allen Nähten. „Jesus“ hofft, bis dahin so stabil zu sein, dass er dann einen großen Bogen um sein altes Zuhause machen kann.

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