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Das Paradies ist anderswo

■ Das Leben der Boheme im Schatten von Hackeschen Höfen und Neuer Mitte: Tine Neumanns und Alexandra Claus' Dokumentarfilm „I'm glad. I can't remember“

Es gibt Dreiecke und Knotenpunkte im Leben, an die kommt man nur, um dort sang- und klanglos unterzugehen. Legenden darüber gibt es genug: Siehe Loreley oder Bermudas. Dürfte man es sich aussuchen, würde man wahrscheinlich die Karibik fürs eigene Untergangsszenario bevorzugen.

In Berlin aber hat es nach der Wende vor zehn Jahren etliche Künstler magisch in den Bezirk Mitte gezogen – mit demselben Effekt: unauffindbar abgesoffen. Wo gestern noch einer sein Wohnklo und Atelier öffentlich zur Galerie mit Clubbetrieb erklärte, ziehen heute Horden von Zimmermännern ein, um rund um die aufwendig sanierten Hackeschen Höfe auch den Rest des Kiezes für Touristen und Neuberliner und ihre Bedürfnisse instandzusetzen.

„VEB vergessen“, wie es noch heute in der August-, Ecke Tucholskystraße auf einer Gehsteigplatte zu lesen ist, ist einer der Zwischentitel einer Dokumentation, die Tine Neumann und Alexandra Claus gedreht haben. Jahrelang waren sie selbst Teil der Hypes und Snypes in Mitte, über zwei Jahre mit der Kamera. Herausgekommen sei dabei, sagt Tine Neumann, „eine Liebeserklärung an eine Zeit, an einen Stadtteil und bestimmte Menschen“.

Tatsächlich ist es noch viel mehr: eine eindringliche Studie dreier Künstler und eines Galeristenpaares, ertrunken im Sog des Dreiecks Neue Schönhauser, Weinmeister- und Münzstraße. Künstler und Sprachakrobat Dida Zende ist einer von ihnen. Einst besaß er an jener Kreuzung von Tucholsky und August seinen „Konsum“ für außergewöhnliche Warensortimente. Jetzt ist das Eckhaus saniert und unten im Laden ein schickes Lokal, das sich Kaisersauce nennt, aber nicht so schreibt.

Wenn er nicht wie Hans Schulze, genannt Hüsch, und Clemens Büttner vor dem Fenster der HTC-Galerie sitzt und erzählt, rennt Dida ständig mit irgendwelchen Baustellenhütchen durch Mitte. Wie beim Spiel „Fang den Hut“. Ein hyperaktives Kind sei er gewesen und behauptet: „Dann hatte ich Naturerscheinungen. Ich war Jesus. Aber dann dachte ich: Halt, ich bin doch Gott!“ Die Legende vom göttlich inspirierten Künstler lebt weiter, auch bei den Bohemes der 90er.

„Was macht uns aus? Was macht uns so besonders?“, fragt zu Beginn des Films der sich selbst als „Poet“ bezeichnende Clemens Büttner aus dem Off. Anschließend fährt die Kamera über die Dächer von Mitte am Dreieck Neue Schönhauser. Eigentlich unvorstellbar, dass dieser unwirtliche Ort aus Plattenbauten und Abbruchhäusern für eine gewisse Zeit Büttner und andere wie in einem Strudel verschlang. Und mit ihnen hunderte von jungen Leuten in der „LOVE WG“ im Hinterhofseitenflügel Nr. 20 zu Büttners Motto: „Just let your love grow“.

Oder Max und Helle, die die HTC-Galerie in der 19 betrieben, im Film vorm flambierten Eisbecher sitzen, von Kapitel zu Kapitel überleiten und immer wieder von den „ephemeren“ Personen und Situationen schwärmen. Von sich selbst sagen sie: „Wir waren Adam und Eva. Wir wollten einen Lustgarten schaffen.“

Sie alle haben lernen müssen, dass das Paradies immer anderswo ist. Hans ward zuletzt ergraut auf der 1. Messe der Geldbeschaffungsmaßnahmen gesehen. Dida lebt noch in Mitte, stellt aber in der Schweiz aus und nennt das „Kompostmoderne“. Clemens ist Vater, dichtet und gärtnert jetzt. Max und Helle werden auch Eltern. Und der Filmtitel und -song „I'm glad. I can't remember“ der Vermoosten Vloten wird dann irgendwann auch noch wahr. Petra Welzel

Der Film läuft heute um 20.30 Uhr im Kunst und Technik, Monbijoustr. 2 – 3, Mitte, Sa. 19 und 20.30 Uhr und So 20.30 Uhr

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