: Aus dem Schlaf geholt
Für tausende Familien sollte der 3. Oktober 1961 nichts Gutes bringen. Ihr Pech: Sie lebten im Sperrgebiet auf der DDR-Seite, nahe der Grenze zum westdeutschen Klassenfeind. Im mecklenburgischen Dömitz, einer Kleinstadt an der Elbe, waren es nur ein paar Meter. Auch hier diente die „Sicherheit der Grenze“ als Vorwand, angebliche „Systemgegner“ unter Zwang umzusiedeln Von Andreas Hergeth
Gegen vier Uhr morgens schreckt Christel Fuhrmann aus dem Schlaf. Jemand klopft sehr energisch. Ein Mann in Zivil beordert sie zu ihren Eltern. Als die damals 35-jährige aufgeregt um die Ecke biegt, sieht sie Lastkraftwagen und Angehörige der Kampftruppen vor dem Haus der Eltern in Dömitz, einer Dreitausendseelenstadt im Kreis Ludwigslust, Mecklenburg. Vor dem Haus des Friseurmeisters das gleiche Bild. Die Aktion „Kornblume“ ist akribisch vorbereitet. „Sie haben keine Fragen zu stellen, Ihre Eltern müssen bis 13 Uhr die Stadt verlassen“, bekommt sie zu hören. Und die Frage nach dem künftigen Wohnort der 60-jährigen Mutter und des 63-jährigen Vaters wird mit eisigem Schweigen quittiert. Angst greift um sich. „Nach Sibirien?“ tuscheln die Leute.
Hilflos der Staatsmacht ausgeliefert, blieb nichts übrig, als Hab und Gut zu verstauen. Alles, was in den wenigen Stunden zu verpacken war, durfte mitgenommen werden. Als die Zeiger auf ein Uhr vorrückten, hatte sich auch der telefonisch alarmierte Ehemann Christel Fuhrmanns eingefunden. Die Straße war abgesperrt, er musste, abseits stehend, hilflos das Geschehen verfolgen. An den Händen hielt er seine Kinder, die sich nicht von ihren Großeltern verabschieden durften. „Was haben sie geweint und nach ihrer Oma gerufen! Diesen schrecklichen Moment vergesse ich nie“, erzählt Christel Fuhrmann. Ihre Eltern mussten die Heimatstadt verlassen, sich von Angehörigen und dem Blumengeschäft trennen.
Erst am nächsten Abend meldete sich der Vater, mit genauen Anweisungen versehen, wie lange er mit dem ersten Anruf zu warten hatte. In einem Dorf im Kreis Güstrow, rund hundert Kilometer entfernt, in einer miserablen Zweizimmerwohnung in einem Tagelöhnerhaus waren sie untergekommen. Der Verlust der Heimat, das ihnen zugefügte Unrecht und die Schmach wogen so schwer, dass sich die beiden Alten anfangs mit Selbstmordgedanken trugen. Trost und Zuspruch des Pastors, der ihnen noch am Abend der Zwangseinweisung einen Besuch abstattete, hielten sie davon ab.
Durch Gespräche mit ehemaligen Nachbarn ihrer Eltern hat Christel Fuhrmann nach der Wende erfahren, wie diese auf die Neuankömmlinge „vorbereitet“ wurden. Volkspolizisten gingen von Haus zu Haus und empfahlen, sich nicht mit den Neuen einzulassen, denn die seien Kriminelle – eine damals gängige Praxis. Selbst als der Vater fünf Jahre nach der Zwangsaussiedlung starb, durfte er nicht in seiner alten Heimat beigesetzt werden. Als ob die Partei selbst vor der Asche Verstorbener Angst hatte. Christel Fuhrmann wollte nun ihre allein stehende Mutter wieder bei sich haben. Was ihr dank einer kleinen List gelang. Als Mitglied der LDPD (Liberaldemokratische Partei Deutschlands) sollte sie für fünf Monate zur Parteischule. „Ich würde ja gerne“, hat sie damals schlagfertig geantwortet, „aber mit drei Kindern geht das nicht. Außer wenn ihr dafür sorgt, dass ich meine Mutter wieder kriege.“ Das klappte, 1968 konnte ihre Mutter zurück nach Dömitz ziehen. Sie starb 1988.
Außer den unmittelbaren Nachbarn hatten damals die meisten Dömitzer wegen der gesperrten Straßen nicht viel von den Geschehnissen mitbekommen. Die Rechnung der Staatsführung ging auf: Einerseits „verschwanden“ die Menschen, die dem Staat und der SED politisch suspekt waren, aus dem Grenzgebiet. Andererseits wurden die Zurückgebliebenen eingeschüchtert. „Alle hatten Angst“, resümiert Christel Fuhrmann. „Jeder hielt lieber seinen Mund. Vielleicht sind wir sonst die Nächsten.“ Proteste hat es deshalb nicht gegeben, nicht geben können Die Taktik der Einschüchterung diente der Geheimhaltung der „Maßnahmen“.
Selbst zehn Jahre nach der Wende treffen die Berichte von Christel Fuhrmann bei vielen Gästen ihrer kleinen Pension aus West- wie Ostdeutschland auf Skepsis: „Das hat es wirklich gegeben?“
Trotz Geheimhaltung: Die Zwangsaussiedlungen waren das Gesprächsthema der ersten Oktobertage 1961. Die SED sah sich deshalb genötigt öffentlich zu reagieren. In den SED-Bezirkszeitungen, die entlang der deutsch-deutschen Grenze erschienen, stand das eigentliche Anliegen der Partei zu lesen: die „Sicherheit an der Staatsgrenze West“.
Beispielsweise war in der Schweriner Volkszeitung vom 5. Oktober 1961 die Rede von der Forderung nach einem deutschen Friedensvertrag und dem westdeutschen Politiker Franz-Josef Strauß, für den „der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende ist“. Die „Kriegspolitik der Bonner Ultras“ mache „die Sicherung der Staatsgrenze West zur zwingenden Notwendigkeit. Dazu gehört auch der Wohnungswechsel einiger Familien aus dem unmittelbaren Grenzgebiet in das Innere unseres Bezirkes.“
Später heißt es im gleichen Blatt: „Am selben Abend fanden in allen Dörfern und Städten entlang der Elbe Einwohnerversammlungen statt. Die Bevölkerung wurde von den Sicherungsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt und hat diese verstanden. Der Wohnungswechsel der Personen wurde begrüßt, weil sie die Sicherheit im Grenzgebiet und die eigene gefährdeten. Die Bevölkerung erkannte sehr schnell, welche Personen einen neuen Wohnraum zugewiesen bekamen. (...) Aus dem Grenzgebiet wurden solche Personen entfernt, die durch ihre Vergangenheit und ihr gegenwärtiges Auftreten Unsicherheitsfaktoren darstellten. Diese Personen boten für Agenten und andere Feinde unserer Arbeiter- und Bauern-Macht Ansatzpunkte der Kontaktaufnahme zur Durchführung imperialistischer Aufträge. Auch unmoralische Elemente, die durch ihren Lebenswandel versuchten, die bewaffneten Organe zu demoralisieren, bekamen einen neuen Wohnsitz zugewiesen.“ Fast alle Personen hätten bei ihren Nachbarn und in der Bevölkerung kein Ansehen, wussten die Schreiber, deshalb wolle die Bevölkerung „mit ihnen nichts mehr zu tun haben“.
Indes waren es fadenscheinige Gründe, die den Umstand zur Aussiedlung lieferten. In einem vom Kreisausschuss der Nationalen Front in Ludwigslust im September 1961 herausgegebenen Flugblatt, das als Agitationshilfe an Lehrer verteilt wurde, sind unter der Überschrift „Raffkes – kurz aufgespießt!“ fünf Fälle von dem DDR-Staat gegenüber feindlich eingestellten Menschen aufgelistet – mit Namen und Adressen. „Am Anfang RIAS-Dreck in den Ohren und dann der Spekulant“, heißt es da. Gemeint war Genossenschaftsbauer Bruno K., der angeblich „mit Hilfe seiner kräftigen Ehehälfte in Ludwigslust fünf Anzüge, zwei Paar Stiefel, Bettwäsche und Unterbetten hamsterte. Meinung von Ludwigsluster Bürgern: Die sollen lieber in der Ernte arbeiten, dann macht es uns auch Spaß, den Bauern zu helfen.“
Ähnlich obskur lesen sich Gründe für eine Zwangsaussiedlung auf einer Liste, die ein Betroffener aus Dömitz nach der Wende in seinen Stasiakten fand. Hinter den laufenden Nummern 27 bis 52 finden sich die Namen von Leuten, die „politisch unzuverlässig“, angeblich „Schieber“, „Hetzer“, „kriminell“ oder schlichtweg „Gegner“ waren, die also „Verbindungen mit dem Westen“ oder eine „feindliche Haltung“ hatten. Dabei wurde den Betroffenen der Anlass nie genannt. Die Frage nach dem Warum quälte viele.
Aus den Stasiakten erfuhr Christel Fuhrmann den Hintergrund für die Umsiedlung ihrer Eltern: Im Frühjahr 1961 wurde das Mobiliar eines in den Westen geflüchteten Gastwirtes verteilt. Ein Mann entdeckte in einem Sessel ein Flugblatt der „Ost-SPD“. Viele Dömitzer wurden verdächtigt, am Flugblatt beteiligt gewesen zu sein, so auch Christel Fuhrmanns Vater. Seit der Wende ist die heute 73-jährige um die Aufarbeitung dieses bislang wenig beachteten Kapitels der DDR-Geschichte bemüht. Sie ist aktiv im Bund der Zwangsausgesiedelten, sucht das Gespräch mit Betroffenen, stöbert in Archiven. Einmal besuchte sie mit einem Kamerateam der ZDF-Sendung „Länderspiegel“ einen damals Hauptverantwortlichen für die Aktion im Kreis Ludwigslust. Der Reporter fragte Herrn G., ob ihm im Nachhinein die Zwangsausgesiedelten nicht Leid täten? „Nein“, antwortete der Gefragte, „denn die Zwangsaussiedlungen waren rechtens, und wir mussten unsere Grenze vor dem Feind schützen.“
So uneinsichtig sich Beteiligte zeigen, so ignorant gibt sich der Staat: Fehlanzeige in Sachen Entschädigung für das Unrecht. „Aber da ist wohl nichts zu machen“, resümiert Christel Fuhrmann, „weil die Zwangsaussiedlungen zu DDR-Zeiten unter Verwaltungsrecht fielen.“ Immerhin setzte der Landkreis Ludwigslust 1991 ein Zeichen der Rehabilitierung. Einstimmig beschlossen die Kreistagsabgeordneten die „moralische Rehabilitierung aller von Willkür und politischer Verfolgung des SED-Regimes betroffenen Bürger“ sowie „die Wiederherstellung der Ehre der Opfer des Stalinismus und des SED-Regimes“. „Dafür kann sich zwar kein Zwangsausgesiedelter etwas kaufen“, so Fuhrmann, „aber die moralische Rehabilitierung ist wichtiger als die rechtliche und finanzielle Seite. Weil die damals Ausgesiedelten keine Kriminellen waren, sondern ihnen staatliche Willkür und Unrecht angetan wurde.“
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