: Betr.: La Lira Maldita
Es ist schon eine Weile her, dass „Nueva Esperanza“, die „Neue Hoffnung“, für irgendjemand eine Hoffnung war. Das Viertel war eine der ersten Streichholzschachtelsiedlungen. Heute ist es heruntergekommen. Nirgendwo sonst liegt so viel Hundescheiße auf den Gassen. Aus einem Haus dröhnt Rockmusik. Die Nachbarn müssen taub sein. „Nein“, sagt La Lira maldita, „ich wohne hier nicht. Ich kann hier nur ab und zu übernachten. Ich wohne nirgends.“
„La Lira maldita“ heißt etwa so viel wie „die verdammte Schindmähre“. Doch die zwanzigjährige Lira ist nicht gerade knochig. „Es war purer Zufall“, sagt sie und lacht. „Auch als ich das erste Mal einen dicken Bauch hatte, wollte ich das nicht.“ Jonathan ist jetzt ein Jahr alt und zieht mit seiner Mutter durch die Straßen, in Windeln und einem schmutzigen Unterhemd. Andere Mädchen geben mit dem ersten Kind das Maradasein auf. Lira will auch noch nach dem zweiten auf der Straße herumhängen.
Nach Hause zurückzugehen kommt nicht in Frage. Mit sechzehn ist sie abgehauen. „In dem Alter geht dir die Familie nur auf die Nerven. Meine Mutter hat mich bloß angeschnauzt. Und verprügelt hat sie mich auch. Da suchst du dir dann jemand, wo du dich besser fühlst.“ Sie war das erste Mädchen in der Mara-Clique. Als Aufnahmeritual wurde sie von allen anderen verprügelt. Sie hätte sich auch von den Männern beschlafen lassen können. „Aber dann bist du hinterher nur Müll und die Nutte von allen. Vor mir aber haben sie Respekt.“
Auch bei Schlachten mit anderen Cliquen ist sie mit dabei. In der Mara sein heißt für sie vor allem eins: „Wir haben ziemlich viel Spaß zusammen. Wir hängen rum und rauchen und saufen.“ Und klauen tun sie natürlich auch. „Was soll ich auch sonst tun? Ich brauche schließlich was zu essen. Und Milch für den Kleinen. Und wenn er krank wird, ist es noch viel schlimmer. Keiner hilft dir.“
Auch keiner von der Mara? „Was denkst du? Die Mara ist nur zum Spaßhaben da.“ Vor drei Monaten wurde Lira ein Job als Bedienung angeboten. Sie hätte in kurzärmliger Arbeitsuniform antreten müssen. Da fiel dem Restaurantbesitzer das große „MS 13“ auf ihrem rechten Arm ins Auge. So etwas könnte die Kunden stören. Deshalb schüttete sie sich Säure über das Tattoo. „Das ganze Fleisch war weg. Das hat höllisch wehgetan. Mit so einem Arm konnte ich nicht arbeiten.“ Heute hat sie eine handtellergroße rosarote Narbe, und die schmerzt noch immer.
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