Faust unplugged – Goethe für Arbeitsame

■ Die Aufführung des „Gesamtfaust“, als einzigartiges Mega-Projekt zur Expo 2000 in Vorbereitung, wurde im Baseler Goetheanum dieses Jahr schon zum 61. Mal gegeben

Der „Faust“ unter der Regie von Peter Stein soll einer der kulturellen Höhepunkte der Weltausstellung in Hannover werden. Schon jetzt fiebert das Feuilleton dem mit 30 Millionen Mark Produktionskosten veranschlagten Großereignis entgegen. Die Sondersendung von Marcel Reich-Ranickis „Literarischem Quartett“ zum Goethe-Jahr und der ARD-„Kulturreport“, um nur zwei Beispiele zu nennen, kündigten die erste Inszenierung des Gesamtwerks im deutschsprachigen Raum an – zu Unrecht, wie ihnen der Regisseur selbst hätte bestätigen können.

Am Goetheanum in Basel, dem Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft, wurde das 23-Stunden-Epos in diesem Sommer komplett auf die Bühne gebracht – und das zum nunmehr 61. Mal. Mutmaßlich aus diesem Grund kreuzte auch Peter Stein am Goetheanum auf und warf einen Blick hinter die Kulissen. Die dortigen Aufführungen bieten allerdings – abgesehen von der schieren Länge – wenig Spektakuläres. Man würde den Zuschauer nie mit einem abgehobenen Inszenierungsstil konfrontieren oder surrealistische Interpretationsmöglichkeiten ausprobieren. Hier geht es eher konventionell zu, dafür aber arbeitsam.

Gleich viermal an sechs Tagen hintereinander verausgabten sich Faust und sein teuflischer Counterpart auf der Bühne. Insgesamt rund 6.000 Zuschauer verfolgten der Tragödie ersten und zweiten Teil. Und nicht nur das: Viele waren am Morgen danach pünktlich um 9 Uhr zu erläuternden Vorträgen und aktuellen Fragestellungen wieder zur Stelle. Die Gesamtaufführungen waren eingebettet in ein Tagungsprogramm.

Eine Premiere gab es allerdings. Aus Anlass des Goethe-Geburtstages lud die Anthroposophische Gesellschaft in diesem Sommer erstmals eine staatliche Institution zum kulturellen Joint Venture: Das Münchner Goethe-Institut beteiligte sich an der Eröffnungsveranstaltung. Und so waren unter den Referenten ausgewiesene Goethe-Kenner wie der Berliner Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski oder der Konstanzer Germanistikprofessor Ulrich Gaier. Referiert und diskutiert wurde zu Fragen wie „Schuld und Freiheit“, „Goethes Gesellschaftsentwurf“ oder „Faust als tragische Bilanz der Neuzeit.“

Die Tradition der Beschäftigung mit dem Faust am Goetheanum geht auf den Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, selbst zurück. Angeregt von ihm und weitergeführt von seiner Frau Marie Steiner-von Sivers, kamen ab 1915 zunächst nur die Szenen mit den drei markanten „Geist-Berührungen“ zur Aufführung: Die Osternacht, die Ariel-Szene und die „Himmelfahrt“.

1938 gelang es Marie Steiner, den ersten und den zweiten Teil als Welt-Uraufführung vollständig auf die Bühne zu bringen. Seitdem werden beide Teile alle vier bis fünf Jahre ungekürzt aufgeführt. Zehntausende haben inzwischen den kompletten „Faust“ gesehen, den Steiner noch mit Anweisungen für die eurythmische Darstellung der klassischen Walpurgisnacht und für die Rollen von Faust und Mephisto versehen hat.

Der Regisseur der diesjährigen Aufführung, Christian Peter, hat seine Schauspielausbildung am Goetheanum absolviert und stand vor fünf Jahren selber als Faust auf der Bühne. Mit seiner Crew hat er nun ein Jahr lang an der Neuinszenierung gearbeitet. Sehr wohl wissend, dass er in einer über 60-jährigen Aufführungstradition steht, sah er dennoch keine Veranlassung, sich sklavisch an alle Angaben von Steiner zu halten, wenngleich er einige davon als „absolut genial“ bezeichnet. Er übernahm jedoch insbesondere diejenigen Instruktionen, die sich auf die eurythmische Umsetzung beziehen – sehr zum Missfallen von manchem, nicht in dieser Bewegungskunst geschulten Zuschauer.

Doch die vielfach kritisierte Konventionalität der Baseler Goethe-Interpretationen wird andererseits auch gelobt. Rüdiger Safranski beispielsweise empfand diesen Stil als wohltuend, weil er dem Publikum falsche oder willkürliche Aktualisierungen erspare und die Konzentration auf Goethes Text erlaube. Das Programmheft erklärt dies so: „Die Schauspielkunst, die hier gepflegt wird, hat ihre Durchschlagskraft empfangen aus einem Gesinnungsgrund, der Goethes Geistesart zutiefst verwandt ist. Nicht zufällig heißt die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft 'Goetheanum‘ “.

Stéphanie Stephan

Die nächste Faust-Aufführung am Goetheanum findet voraussichtlich im Jahre 2003 statt.