: Generation West-Berlin
Im Schatten der Mauer wuchs 28 Jahre eine ganz spezielle Spezies Mensch heran: der Westberliner. Keiner hat nach der Wende so viel verloren wie er. Eine Rückblende ■ von Philip Meinhold
„Allen Mythen zum Trotz ist der Berliner gleichwohl kein Großstadtbürger. Sein Misstrauen gilt dem Neuen. Sorgsam hegt er eine Kleinstadtborniertheit, die er nach 30 Jahren Inseldasein für seine Mentalität hält.“ („Der Spiegel“)
Im Sommer 1987 war ich 16; Berlin wurde 750 Jahre alt und der Ku'damm zu meinem Wohnzimmer. Die Nachmittage verbrachte ich meistens gegenüber dem Kranzler; dort stand ein Kunstwerk aus übereinander gestapelten Absperrgittern. Vor dem Gitterturm wachte jeden Tag ein Berliner, der mit einem Schild um den Hals gegen diese Verschwendung von Steuergeldern demonstrierte. Ich lauschte den Diskussionen, die sich entsponnen, und dachte: Det is Berlin. Die Mitte der Welt. Und mitten in der Mitte: der Ku'damm. Irgendwas war hier immer los. Wenn man Glück hatte, kam sogar eine Demo vorbei. Die begannen am Adenauerplatz und endeten an der Gedächtniskirche. Manchmal auch umgekehrt, aber durch mein Wohnzimmer gingen sie fast immer.
Det war Berlin. Groß genug, dass etwas passierte. Und überschaubar genug, um zu wissen, wo es passierte. In einer Stunde war jeder Fleck zu erreichen. Spandau war fast eine andere Stadt und das Schlesische Tor das Ende der Welt.
„Kommt ihr euch nicht eingeengt vor?“, fragten die Touristen. Wir kannten die Frage, aber wir verstanden sie nicht. Berlin war für uns der einzige Ort, an dem wir uns vorstellen konnten zu leben. Hier gab es alles, was man brauchte. Der Wannsee war unser Meer und der Grunewald unser Dschungel. Auch wenn die SPD in den 70ern plakatierte: „Berlin stimmt wieder“ – für uns hatte die Stadt immer gestimmt. Es war wie es war, und so wie es war, war es selbstverständlich. Die Mauer haben wir nie besichtigt. Wir waren eher überrascht, wenn wir mal vor ihr standen – und fühlten uns in Sicherheit, weil wir uns nicht weiter verlaufen konnten.
Die DDR interessierte uns nicht. Sie war weder gut noch schlecht, sondern einfach nur da. Ihre Existenz in Gänsefüßchen zu packen, kam uns absurd vor. Wir fühlten uns eher gelangweilt von ihr als bedroht. So langweilig, wie wir sie als Kinder an der Passagierscheinstelle im Forum Steglitz kennengelernt hatten. So langweilig, wie es war, jeden Urlaub im Stau an der Transitkontrolle zu beginnen.
Und für die Heimreise galt: Von den Kilometerangaben hinter „Berlin – Hauptstadt der DDR“ musste man 50 abziehen; ab „Plaste und Elaste aus Schkopau“ noch eine Stunde bis zu unserem Berlin. Freiheitskundgebungen lagen uns fern. Wir fühlten uns frei. Warum auch nicht! 28 Jahre lang wuchs in West-Berlin eine Spezies heran, für die Vereinigung nichts mit „wieder“ zu tun hatte. Als wir die Stadt entdeckten, gehörte die Mauer längst dazu. Freunde dahinter hatten höchstens die Eltern. Der Transitverkehr mit Wessiland war geregelt. Wer wollte, konnte den Osten besuchen – wenn auch nur gegen ein überhöhtes Eintrittsgeld – wie im Phantasialand. Wir taten es von Zeit zu Zeit; aber nur, weil Phantasialand zu weit weg war.
Doch so normal uns das alles auch vorkam, besonders fühlten wir uns trotzdem. Wir fühlten uns als Berliner, wie sich Wuppertaler als Deutsche fühlten. Und dafür, dass wir anders waren, gab es genug Beweise: Die Bundeswehr ließ uns in Ruhe, und den Bundestag durften wir nicht mitwählen. Dafür gab es bei uns nach alliiertem Recht noch die Todesstrafe.
Wir waren stolze Besitzer von behelfsmäßigen Personalausweisen, und weil wir die ja nicht jedem ungefragt unter die Nase halten konnten, fingen wir bei Besuchen in Wessiland an zu berlinern (was wir zu Hause nie machten). Wessis waren damals noch alle, die aus dem Bundesgebiet kamen. Eine Bezeichnung, die gleichbedeutend war mit Hinterwäldler und Ahnungslose – egal, ob jemand aus Köln kam oder Oberwarmensteinach. Besonders ahnungslose Hinterwäldler outeten sich durch eine Nachfrage zu unserer Herkunft: „Ost- oder West-Berlin?“ Dann lachten wir herzlich und laut.
Die große weite Welt fanden wir in unserer kleinen: Unsere Promis hießen Juhnke und Mira, unsere Politiker Stobbe und Diepgen. Unsere „Tageschau“ war die Berliner „Abendschau“, und die Skandale hießen Antes und Garski. Politik wurde im Rathaus Schöneberg gemacht – zwischen Lohnsteuerkartenstelle und Standesamt.
Provinziell? Papperlapapp. Wir waren die Größten. Doch mit dem Fall der Mauer fiel auch unsere überschaubare Welt. Die Ossis gewannen die Freiheit, die Wessis an Selbstwertgefühl. Und wir? Wir gewannen Bewegungsfreiheit, die wir gar nicht brauchten. An die wir uns bis heute nicht gewöhnen konnten.
Wenn wir im Sommer an den Stechlinsee fahren (und wir fahren selten raus aus Berlin), bereiten wir uns vor wie auf eine Reise: Wir planen schon Wochen vorher und packen Proviant ein, als wüssten wir nicht, dass es Imbissbuden mindestens so viele wie Nazis gibt. Wenn wir in Berlin Klamotten kaufen gehen, dann nach wie vor am Ku'damm oder der Schloßstraße. Friedrichshain liegt für uns kurz vor Frankfurt (Oder). Ein Freund stellte neulich fest, dass es in Berlin nur drei U-Bahn-Linien ohne überflüssige Stationen gäbe: die U 4, 7 und 9. Denn die halten nicht im Osten.
Nicht, dass wir wirklich etwas gegen den Osten haben, wir haben nur einfach viel verloren: Die Berlin-Zulage an den Aufbau Ost, das Nachtleben an Mitte und Prenzlauer Berg, den Begriff Wessis an die Ossis. Für die sind wir jetzt selber welche. Und wenn wir heute in Wessiland anfangen zu berlinern, werden wir stattdessen für Ostler gehalten – und können nicht mal mehr unseren behelfsmäßigen Perso zücken. Den mussten wir mit unseren anderen Insignien abgeben. Besondere Kennzeichen: keine.
Zurückbekommen haben wir für diesen letzten Zwangsaumtausch nichts – nicht mal Begrüßungsgeld. Dass Berlin Hauptstadt und Regierungssitz wird, war für uns eh selbstverständlich. Wir waren schon immer der Mittelpunkt der Welt (auch wenn in allen Himmelrichtungen Osten ist). Bloß dass die Bonner dafür nach Berlin ziehen müssen, empfinden wir als störend.
Der alten Tante Tagesspiegel vertraute eine Berlinerin kürzlich an, sie habe eine „tiefere innere Sehnsucht nach der Kuscheligkeit des alten West-Berlin“. Die wurde von rheinischen Frohnaturen inzwischen endgültig wegmodernisiert. Kreuzberg, unser altes Ende der Welt, gehört auf einmal zur neuen Mitte. Und selbige sitzt da jetzt auch noch in den Cafés rum, trinkt Prosecco und findet Berlin „unheimlich spannend“. Aber spannend war es auch schon 1987 auf dem Ku'damm. Nur nicht unheimlich.
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