: Der Traum vom guten Kapitalismus
John Gray, vom Thatcherist zum Kritiker des Neoliberalismus gewandelt, beschreibt die Gefahren der Globalisierung. Doch es fehlt analytische Schärfe ■ Von Elmar Altvater
Man klicke die Internet-Buchhandlung amazon.de an, gebe das Suchwort „Globalisierung“ ein und lasse 194 Buchtitel deutscher Sprache mit dem Suchbegriff am Bildschirm vorbeiscrollen. Kein Autor, der es derzeit nicht für opportun halten würde, auch die langweiligste industriesoziologische Studie mit dem Faszinosum Globalisierung zu dramatisieren, und kein Verlag, der nicht Käufer wittern wurde, wenn er Aufklärung über die große und drauende Unbekannte verspricht.
Der Alexander Fest Verlag hat das Buch des britischen Autors John Gray „Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen“ übersetzen lassen und ins Globalisierungssortiment aufgenommen. Im Original hieß das noch: „Falsche Morgenröte“, womit auf den Abgesang des realen Sozialismus und die triumphierende Rede vom „Sieg im Kalten Krieg“ angespielt wurde. Doch abgesehen davon ist der deutsche Titel angemessen, es sei denn, kritische Leser erinnern sich an einen ähnlichen Titel des fast vergessenen Eugen Varga: „Die Krise des Kapitalismus und ihre politischen Folgen“. Das war Anfang der 30er-Jahre, und für den Kommunisten Varga war klar, dass die Arbeiterklasse und ihre (kommunistische) Partei nun zur Revolution gerufen seien.
Grays Botschaft ist 60 Jahre später viel pessimistischer: Gangbare Alternativen zum Laissez-faire-Kapitalismus wird es erst nach der zu erwartenden gobalen Wirtschaftskrise geben. Doch welche alternativen Projekte entsteigen nach dem Kladderadatsch dem Frühdunst der Morgenröte? Keine. Gray, vom Thatcher-Berater zum Kritiker des Neoliberalismus gewandelt, nimmt die Botschaft der von ihm attackierten Globalisierer auf und gibt sie weiter: Im Falschen der Globalisierung kann es Richtiges nicht geben.
Falsch ist vor allem die Marktvergötzung und der aus den USA in alle Welt erfolgreich exportierte Extremglauben an die Wohltaten des Freihandels. Dieser Glaube hat in den vergangenen Jahrzehnten Berge versetzt und regionale Eigenheiten, die Vielfalt der Weltkulturen, der nationalstaatlichen politischen Ordnungen so eingeebnet, wie es der „Konsens von Washington“ mit seinem Regelwerk verlangt: Marktöffnung, den Weltmarktzwängen angepasste Stabilitätspolitik, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch Druck auf die Löhne und den Sozialstaat. Der globalisierte Kapitalismus folgt also unweigerlich einer Abwärtsspirale, auf der die historischen Errungenschaften der Sozialdemokratie als hinderlicher Ballast über Bord gehen. Margaret Thatcher hat dabei den Ton angegeben, Reagan ist gefolgt, die Neuseeländer haben sich vom sozialdemokratischen, egalitären Wohlfahrtsstaat verabschiedet und eine sozial zerklüftete Gesellschaft geschaffen.
Gray entdeckt das gleiche Muster der Unterwerfung von Wohlfahrtsregimen unter die extern gesetzten Bedingungen der Globalisierung in Mexiko, in China oder auch in Deutschland.
Der „Konsens von Washington“ ist für Gray eine Art Rezeptbuch der Globalisierer, mit dem sie dem aus der Geldtheorie seit dem 16. Jahrhundert bekannten „Gresham'schen Gesetz“ folgen, den besseren durch einen schlechteren Kapitalismus zu ersetzen. Unter Bedingungen der Globalisierer kommt nicht nur das „pensée unique“, das eindimensionale und alternativlose Denken zur Geltung. Dieses beschreibt Viviane Forester in einem Pamphlet gegen die Globalisierungsideologie, an das Grays Text manchmal stark erinnert. Es werden vielmehr soziale und ökologische Regeln, demokratische Möglichkeiten der Teilhabe, kulturelle Vielfalt ausgeschaltet. Globalisierung und Freisetzung der Märkte entfesseln die mieseste Variante des Kapitalismus, obwohl es eigentlich auch den „guten Kapitalismus“ gibt, der sich der sozialen Verantwortung bewusst ist. Dazu gehört die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards, der von Gray dafür belobigt wird.
Ein anderer englischer Autor, John Kay, hat vom „good market“ geschrieben, vom Markt, der sich nicht aus der Gesellschaft herauslöst und ihr sein hartes Regiment aufzwingt, sondern der in die gesellschaftlichen Netzwerke eingebunden bliebt. Das ist schon einmal am Ende des Zweiten Weltkriegs vom Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi in der auch von Gray häufig zitierten Analyse der „great transformation“ zur Marktwirtschaft im viktorianischen England ähnlich, jedoch mit zeitgeschichtlich bedingter größerer kritischer Verve gesagt worden.
Kein Wunder, dass John Gray es mit den Netzwerken der kleinen und mittleren Unternehmen, meistens mit familialer Bindung in China und anderen Varianten des asiatischen Kapitalismus hält. Hier scheint er gewisse Hoffnungen auf die Heraufkunft eines, wenn schon nicht guten, so doch besseren Kapitalismus zu hegen. Die freigesetzten Märkte hingegen sind nur das in die Wirklichkeit unserer Tage gesetzte Resultat des „reaktionären Utopismus der Konservativen“ (Gray).
Der Preis ist hoch: die globale Finanzkrise mit ihren immensen sozialen und ökonomischen Kosten, die Zerschlagung von politischen Institutionen, neue Formen der Ausgrenzung. Ein Abschnitt des Buches, in dem Gray den US-Kapitalismus unter die Lupe nimmt, ist mit „Die große Inhaftierung“ überschrieben; immer mehr Menschen verschwinden in den USA hinter Gefängnismauern. Noch schlimmer steht es mit der ehemals östlichen Supermacht. Dort hat sich ein „Mafia-Kapitalismus“ (Gray) herausgebildet.
Fazit: Gray betrachtet jene Schriften, die Globalisierung als neue Freiheit begrüßen, mit abgrundtiefer Skepsis. Doch was soll die Hoffnung auf einen guten Kapitalismus? Verständlich ist dieser naive Glaube nur, weil das Buch analytisch schwach bleibt. Die nahe liegende Frage kommt gar nicht vor: Welcher Teufel eigentlich reitet den guten Kapitalismus, das „Gresham'sche Gesetz“ zu akzeptieren und sich in einen schlechten Kapitalismus zu verwandeln? John Gray: „Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen“. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, 334 Seiten, 49,80 DM
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