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Ästhetische Ermächtigungsphantasie

■ Peter K. Wehrlis „Katalog von Allem“ ist ein Resümee der Welt als Wortbild, eine Suche nach Fotografie gewordener Sprache, in der Farben riechen und Musik bunt leuchtet

Im legendären Orient-Express reiste 1968 der damals 29-jährige Peter K. Wehrli von Zürich nach Beirut, vergaß seinen Fotoapparat und machte aus der Not eine Tugend, indem er „die Erinnerungsbilder dieser Reise statt mit der Kamera nun mit den Mitteln der Sprache“ anfertigte. „Alles, was er fotografiert haben würde (...), bildete er nun mit Wörtern ab“, wobei er sich an die selbst auferlegte Regel hielt, alle Eindrücke in einen einzigen Satz zu fassen, um den Momentcharakter des Fotos zu erhalten. Außerdem verzichtete er konsequent auf alle Satzprädikate, um den Eindruck eines Fotokatalogs zu suggerieren. Und da sich diese fotografische Ersatzhandlung in ausgesprochen präzisen, extrem verdichteten Sprachminiaturen bestens bewährte, machte Wehrli, Schriftsteller und Kulturredakteur beim Schweizer Fernsehen, sie zur Methode, um auf diese Weise nichts Geringeres als einen „Katalog von Allem“ zu erstellen.

Aber kann man „Alles“, kann man die ganze Welt sprachlich katalogisieren? Man kann, wenn man wie Wehrli seine Optik, und das heißt: sein Wahrnehmungsinteresse, auf bestimmte Kraftfelder fokussiert, um sich „die Gesetze der Simultaneität aller Dinge anzueignen“. Das setzt einerseits eine Art Grundvertrauen in die Sprache voraus, die den fotografischen Medien insofern überlegen ist, als sie auch von Gerüchen, Geräuschen und Gedanken sprechen kann; und die Überzeugung, dass „die Aneinanderreihung bloßer Buchstaben aus Druckerschwärze sinnliche Erfahrungen von ebensolcher Beständigkeit hervorrufen kann wie das Erlebnis selbst (...), weil Kunst nichts anderes ist als ein Aggregatzustand vom wirklichen Leben“.

Andererseits erscheint das Ganze im einzelnen Bild bzw. Text, die Welt im Detail, weil „der im Sucher sich darbietende Ausschnitt aus dem Strom Leben nicht den Ausschnitt zeigt, sondern das Leben, weil in einer guten Fotografie auch der kleinste Ausschnitt das ganze Leben enthält“. Das Ganze ist somit eine Konstruktion individueller Erfahrung und Wahrnehmung, „wenn tatsächlich Alles mit Allem zu tun hat, mein momentaner Zustand, meine Verfassung in diesen Bildern den Gegenstand bestimmt, von dem alle anderen abhängig sind“.

Man kann das als kunst- bzw. literatur-notorische, ästhetische Ermächtigungsphantasie verstehen: Die Welt ist das, was die ästhetische Wahrnehmung aus ihr macht. Und diese Ermächtigungsphantasie speist sich aus einer Erfahrungsform, die man auch „mystisch“ nennen könnte; alles ist Eins und eins ist Alles: Die Welt im Nu. Es ist kein Zufall, dass sich Wehrlis Sprachbilder immer wieder an Synästhesien entzünden, die zum Gemeingut mystischer Wahrnehmung zählen, also an der gleichzeitigen Reizung verschiedener Sinneswahrnehmungen aus einem Impuls: Farben haben dann Gerüche, Musik wird als Farbe empfunden – und so fort.

Es gehört deshalb konstitutiv zu Wehrlis Methode, dass er immer von sinnlichen Eindrücken ausgeht, was die hohe Eingänglichkeit und Lesbarkeit dieses Buchs überhaupt erst ausmacht. Erst aus den sinnlichen Eindrücken werden dann häufig Abstraktionen, Theorien und Spekulationen entwickelt, in denen es wesentlich um das Verhältnis von Kunst und Natur geht (erst die Kombination von Bild und Gegenstand, von Vorbild und Abbild, ergibt „Alles“), aber auch um den Verlust von Natur und somit um das Verhältnis von Erfahrung und Entfremdung. Insofern ließe sich dieser „Katalog von Allem“ als eine ästhetische Erfahrungstheorie in Form miniaturisierter Sprachbilder bezeichnen, die gelegentlich an Walter Benjamins „Denkbilder“ erinnern, manchmal auch an Ludwig Hohls „Notizen“.

In einigen Passagen, beispielsweise auf Reisen oder bei einem Aufenthalt in Cannes während der Filmfestspiele, bekommen die aneinandergereihten Einzelbilder wiederum etwas Episches – gewissermaßen Sprachfilme. Und diese 1.111 sprechenden Bilder verfolgen im Grunde nur jenes einzige Ziel, dass aller ernst zu nehmenden Literatur gemeinsam ist – nämlich Erfahrung, die im strikten Sinn immer schwieriger zustande kommt, krisensicher zu machen und „die zum Erlebnis gewordene Erinnerung über das erinnerte Erlebnis“ triumphieren zu lassen.

Klaus Modick ‚/B‘ Peter K. Wehrli: „Katalog von Allem. 1111 Nummern aus 31 Jahren.“ Knaus Verlag 1999, 415 Seiten, 44,90 DM

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