Press-Schlag: Who the hell is Hertha?
■ Englische Medien wissen nicht recht, wie sie Chelseas Gegner einschätzen sollen
Den FC Chelsea kennt jedes Kind in Europa, aber wer ist Hertha BSC? Und was für ein ulkiger Name! Die englischen Fußballreporter mussten nach der Champions-League-Auslosung im Sommer erst mal Erkundigungen einziehen. Sieh mal an, staunten sie dann, die Berliner waren vorige Saison Bundesliga-Dritter, derselbe Tabellenplatz wie Chelsea.
Dennoch war die Sache klar: Alles andere als ein deutlicher Sieg für Chelsea in Berlin wäre eine Überraschung, ja geradezu eine Schande für den englischen Fußball. Schließlich wimmelt es bei den Londonern nur so von internationalen Stars: Desailly und de Goey, Leboeuf und Zola, Deschamps und Babayaro, Poyet, Di Matteo und Ambrosetti. Dazu noch der englische Angreifer Chris Sutton, der allein umgerechnet 30 Millionen Mark wert ist. Und der Norweger Flo sitzt meist nur auf der Ersatzbank.
Hertha hat auch Nationalspieler, aber die kannte in England bisher niemand. Dariusz Who? Dem Berliner Trainer Jürgen Röber kommt das gelegen, bei Interviews mit der englischen Presse übt er sich in fast penetranter Bescheidenheit. „Wir sind keine große Mannschaft wie Bayern, Mailand oder Chelsea“, sagte er vor Chelseas Gastspiel in Berlin. Hertha gewann 2:1. „Besiegt von einem Iraner“, stöhnten die britischen Medien. Ali Daeis zweiter Treffer „zog praktisch einen Dunstschweif hinter sich her, als der Ball vom Innenpfosten ins Tor sprang“, schrieb der Observer.
Daei ist seitdem der einzige Herthaner, der es zu ganzseitigen Porträts in der englischen Presse gebracht hat. Ein Sportjournalist, der ausgerechnet Pat Butcher heißt, bezeichnete ihn als „Satan-Schlächter“ – in Anspielung auf Daeis muslimischen Glauben. „Der Iraner ist ein großer Mann, weit mehr als sechs Fuß, und er wiegt 14 Stones, was eine Menge Fleisch ist, das seinen Schüssen und Kopfbällen Wucht verleiht.“ Und er sei auch noch leichtfüßig wie ein Balletttänzer.
Ein solch herausragender Spieler, glaubt man, träumt natürlich von der englischen Premier League. „Ich würde sehr gerne in England spielen“, soll der Satan-Schlächter dem Butcher erzählt haben. „Ich würde dort besser spielen, weil es mehr Flanken gibt, und ich bin bei Kopfbällen gut. Aber ich habe einen Dreijahresvertrag mit Hertha.“ Mit Geld sei jeder Vertrag zu lösen, glaubt Butcher, und Geld haben die englischen Topvereine dank Medienzar Rupert Murdochs Sky-Fernsehen wahrlich genug. Einer wie Daei müsse doch nicht bei Hertha versauern.
Hellhörig wurde man in England erst nach Herthas beiden Spielen gegen den AC Mailand. Auswärts ein Unentschieden, daheim ein Sieg – sind die Berliner doch nicht nur Kanonenfutter? Dann verlor Hertha zu Hause 1:4 gegen Galatasaray Istanbul – gegen dasselbe Team, gegen das Chelsea eine Woche zuvor auswärts 5:0 gewonnen hatte. Bei der Live- Übertragung des Chelsea-Spiels aus Mailand wurde der Zwischenstand aus Berlin immer wieder eingeblendet und verwundert kommentiert.
So wissen die englischen Reporter vor dem entscheidenden Spiel zwischen beiden Teams heute in London immer noch nicht, wer Hertha BSC eigentlich ist. Die merkwürdigen Ergebnisse geben dem heutigen Spiel „einen surrealistischen Anstrich“, sinnierte der Observer. Hertha brauche einen Punkt, Chelsea auch. „Ein Remis würde den AC Mailand eliminieren“, stellt das Blatt fest und zitiert Jürgen Röber, der scherzhaft vorgeschlagen hat: „Vielleicht können wir ein Unentschieden arrangieren.“
Gnädigerweise verschweigt die Zeitung, dass so etwas im deutschsprachigen Raum durchaus Tradition hat. Zum Beispiel bei der WM 1982 im spanischen Gijón, als Deutschland und Österreich so herumkickten, dass durch das 1:0 am Ende beide weiterkamen und die armen Algerier tatenlos aus dem Turnier gekegelt waren.
Chelsea-Coach Gianluca Vialli sagt: „Ein deutsch-englisches Bündnis wird es nicht geben.“ Ob sich zweckdienliche Bündnisse auch spontan entwickeln können, werden wir sehen. Ralf Sotscheck
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