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In der Wildnis des Schlafes

Was die Träume dem Ich zu sagen haben: „Die Traumdeutung von Dr. Sigm. Freud“ wird hundert Jahre alt  ■   Von Michael Rutschky

Eine unglaubliche Wirkungsgeschichte: Jedermann kann dich heute mit irgendeiner Deutung zu erwischen versuchen

Selten liegt morgens ein solches Prachtstück vor, das nur noch aufgeschrieben zu werden braucht:

„Das Tier hat das andere Tier besiegt, so gründlich, dass von ihm nichts übrig geblieben ist als Spreu, die vom Wind über einen Feldweg geweht wird. Davon fliegt dem siegreichen Tier aber eine Fluse in den Augenwinkel – es handelt sich um riesige kreisrunde Augen, die fast das ganze Tiergesicht bedecken und mit rotem Wollpelz bewachsen sind, den der Wind durchkämmt. Ehe wir es uns versehen, beginnt das zu Spreu gewordene besiegte Tier sich in den Augenwinkel des Siegers zu bohren, schnurrdiburr, wobei so viel Angst frei wird, dass wir erwacht sind.“

Heute, an einem 4. November vor genau 100 Jahren erschien das Buch, welches unsere Vorstellungen, was solche Texte zu sagen haben, unwiderruflich revolutioniert hat. „Die Traumdeutung/ von/ Dr. Sigm. Freud“ heißt das Buch lakonisch und definitiv (alles andere als „Versuch einer Annäherung an –“), und der S. Fischer Verlag hat aus Anlass des Geburtstags ein Faksimile der Erstausgabe herausgebracht, dem eine Broschüre mit drei Aufsätzen beigegeben ist: Jean Starobinski bettet (wie das so seine Art ist) das Buch satt in die Geistesgeschichte ein; Ilse Grubrich-Simitis erzählt die verwickelte Textgeschichte (Freud überarbeitete regelmäßig die Neuauflagen); Mark Solms erörtert die theoretischen Aufstellungen des berühmt-berüchtigten 7. Kapitels (eine schwere Grübeltortour für jeden Adepten) im Hinblick auf die neueste Hirnphysiologie.

Was das „Jahrhundertbuch“ (Grubrich-Simitis) schon mit seinem Titel dramatisch anzeigt: Träume sind anschlussfähig zur alltäglichen Kommunikation. „Das Tier hat das andere Tier besiegt ...“: der Traum hat etwas Wesentliches über mich zu sagen; man wird es, seit „Die Traumdeutung“ erschien, durch einfaches Kopfschütteln, welches absurde Textgetier sich draußen in der Wildnis des Schlafs so herumtreibe, nicht mehr los. Denn die Wildnis, die sich in den Nachtträumen offenbart, ist drinnen, der Kern des Ich, über den sich mittels der Erzählung und Deutung des Traums Aufschlüsse gewinnen lassen.

Hierzu bedarf es eines Experten – Freud hat ihn erfunden: den Psychoanalytiker –, dem ein überaus kunstvolles Zuhören obliegt. Freud selber war, als er „Die Traumdeutung“ schrieb, eben dabei, mit seinen Patienten die Psychoanalyse als Profession zu erfinden; bei der Deutung und Analyse seiner eigenen Träume nutzte ihm die heftige Freundschaft mit Wilhelm Fließ, einem Berliner Hals-Nasen-Ohren-Arzt, die sich in einem umfangreichen Briefwechsel ausgab. Für die Heftigkeit der Freundschaft gibt's auch einen Terminus technicus: „Übertragung“, die Freud erst später, anlässlich seines berühmten Falles Dora, konzeptualisierte. Stets greift in unsere Freund- und Liebschaften die Vorgeschichte unserer Freund- und Liebschaften ein, insbesondere die kindliche Vorgeschichte – solche Einsichten sind unterdessen allüberall verbreitet. Jedermann kann dich heute jederzeit mit irgendeiner Deutung zu erwischen versuchen. Gleichzeitig tobt, was im Angloamerikanischen „the Freud Wars“ heißt, ungemindert weiter: Das ist doch alles Unfug, ausgedachtes Zeug, wobei sich die Auseinandersetzung wissenschaftstheoretischer ebenso wie biographischer und, schnurrdiburr, psychoanalytischer Argumente bedient. Mich hat das immer von der Lebenskraft des Freudschen Unterfangens überzeugt; erst wenn „das Unbewusste“, wie Freud es zu konzipieren versuchte, einfacher Gegenstand positiven Wissens geworden wäre, hätte sich die Sache erledigt.

Dass Träume gedeutet werden können und so zu Selbstaussagen des Träumers führen, ist der eine Zentralsatz der „Traumdeutung“; der zweite, der lange den lautesten Skandal machte, wird von der Überschrift des 3. Kapitels aufgestellt: „Der Traum ist eine Wunscherfüllung“. Im Schlaf, draußen in der Wildnis, geht das Ich geheimen Wünschen nach, die stets, denn dies ist der Inbegriff allen Wünschens, mit Sexualität zusammenhängen, wenn wir uns davon den uneingeschränkten Begriff bilden, den Freud mit seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) entwickelt hat, ein gleichfalls vielen Umarbeitungen unterworfenes Buch (Umarbeitungen, die Freud als rares Exempel eines Theoretikers vorführen, der Zeit hat, sich den unterschiedlichen Wandlungen seines Beobachtens zu überlassen – eine sozusagen episch konzipierteTheorie). Auch um Freuds Begriff der Libido tobte lange der Krieg; unterdessen ist er über das Franzosendenken als „le désir“, das Begehren, das sich auf alles richten kann, jedenfalls bei manchen Kadern friedlich eingebürgert.

Träume können letztlich nur vom Träumer selbst befriedigend gedeutet werden, und es ist zu lange her, dass ich den Traum vom Tier, das das andere Tier besiegt, aufgeschrieben habe. Deshalb sind mir die genaueren Umstände (Freund nennt sie „Tagesreste“) entfallen. Dass mich seit meiner Kindheit ein starkes Interesse mit Tieren verbindet, gebe ich gleich zu – dass es bei der geträumten Kampfszene, in der sich das unterlegene Tier schließlich als Granne in das mit Pelz überzogene Auge des Siegers bohrt –, dass es hier irgendwie um Sex geht, eine solche Deutung wird man kaum als völlig irreführend abweisen wollen, nicht wahr? Was ist schon dabei? kann man inzwischen, nach entscheidenden Fortschritten des Zivilisationsprozesses in dieser Hinsicht sagen. – Dass es sich beim Träumen eigentlich bloß um gewisse Ladungen und Entladungen im Gehirn handelt, kann nicht als Einwand gelten; denn das ist einfach eine andere Theoriesprache. Solche Ladungen und Entladungen kennzeichnen Seelenvorgänge. Sie finden auch statt – sagt diese Theoriesprache –, während Sie dies hier lesen. Und Sie würden zu Recht zornig, wenn ich Ihren Widerspruch zu dem Gelesenen bloß als hirnphysiologischen Vorgang deklarierte (den Freud im Übrigen, so Mark Solms in dem Beiheft zum Faksimile, sich – neben der Hermeneutik – gar nicht so irrig vorstellte, wie die neueste Hirnphysiologie zeige).

Die unglaubliche Wirkungsgeschichte, die „Die Traumdeutung/ von/ Dr. Sigm. Freud“ zeitigte, kann man schon mit den ersten Zeilen eines Prosagedichtes von Stéphane Mallarmé umreißen, eines Lyrikers, dessen poetische Theorie in der französischen Psychoanalyse oft in Verbindung mit Freuds Deutungspraxis gebracht wird. Mallarmés Gedicht (mit dem Titel „Eine abgebrochene Schaustellung“) entstand vor der Traumdeutung“ und beginnt: „Wie weit entfernt ist die Zivilisation, ihrer Entwicklungsstufe angemessene Unterhaltungen zu bieten! man muss sich zum Beispiel wundern, dass nicht in jeder großen Stadt ein Verein der Träumer besteht und zusammenkommt, um eine Zeitschrift zu fördern, die Geschehnisse im Sinne eines Traums beleuchtet.“

Nun, in den nächsten Jahren wird in jeder großen Stadt ein solcher Verein gegründet, psychoanalytische Gesellschaften, und es erscheinen, zur Blütezeit der Psychoanalyse, auf Deutsch sogar zwei große Zeitschriften, die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse sowie, für das kulturell interessierte Publikum, Imago. Zeitschriftfür die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Klar, Mallarmé hatte ein ästhetisch-geselliges Unterfangen vor Augen, kaum ein nervenärztliches.

Doch sind Kunst, Literatur, Ästhetik bei der Psychoanalyse nie so weit entfernt. Man denkt sich die Kur stets als schmerzhafte Reise durch die eigene Seelenwildnis – doch hat Freud sein Buch über den „Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ (1905) geschrieben, weil Analysanden regelmäßig seine Deutungen so witzig fanden und man lachen musste. In der französischen Psychoanlayse existieren lebhafte Beziehungen zu André Bretons Surrealismus, der die Verfahrensweisen der Traumarbeit produktiv in den Dienst von Kunst und Poesie stellen wollte und dessen Gruppe Mallarmés Verein der Träumer ebenso nahe steht wie der psychoanalytischen Gesellschaft (und, man muss es zugeben, Lenins Bolschewisten). Für Bretons Prosa hat Jean-Paul Sartre das Genre des „Märtyrer-Essay“ erfunden; darin begründet der Autor „kühl die Überlegenheit seiner Theorien, und dann erzählte er plötzlich von sich selbst bis in die kindischsten Einzelheiten seines Lebens hinein, zeigte Fotos von den Restaurants, wo er gegessen hatte, von dem Laden, wo er seine Kohlen kauft“.

Klar, wenn Dr. Sigm. Freud in seiner „Traumdeutung“ auf solche Einzelheiten zu sprechen kommt, dann macht das einen strengen Sinn, entspricht nicht bloß Künstler-Exhibitionismus. Aber dass es sich bei der „Traumdeutung“ auch um ein literarisches Werk handelt, das ungewöhnliche Exempel einer Autobiographie, die zugleich durch und durch Theorie ist, bleibt ein interessantes Problem für die Literaturwissenschaft ebenso wie für die Literatur selber. Ich wüsste keinen deutschen Autor, der sich mal ernsthaft in diesem Genre versucht hätte. Sigmund Freud: „Die Traumdeutung“. Reprint der Erstausgabe. Mit Essays von Jean Starobinski, Ilse Grubrich-Simitis und Mark Solms. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999. 384 Seiten und 64 Seiten Begleitheft, 128 DM

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