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Ganz Europa ist heute ein Nato-Protektorat“

■  Nikolaj Portugalow war in den entscheidenden Monaten der Wiedervereinigung einer der Deutschland-Berater von Michail Gorbatschow. Die UdSSR habe damals eine einmalige Chance vertan, ihre Allianz mit Deutschland wiederherzustellen. Trotzdem wünscht er sich „ein Denkmal für Gorbi in Berlin“

taz: Im September veröffentlichte die Tageszeitung „Nesawisimaja Gaseta“ Fragmente aus Michail Gorbatschows auf Deutsch erschienenem Buch über die deutsche Wiedervereinigung, „Wie es war“.

Nikolaj Portugalow: Diese Fragmente stammen in Wirklichkeit, da bin ich sicher, aus der Feder Anatoli Sergejewitsch Tschernjajews, ich erkenne ihn an seinen Stilblüten. Er war damals engster Berater des Generalsekretärs Michail Gorbatschow für internationale Fragen. Ein sehr ehrlicher, integrer Mensch, aber er handelte für meine Begriffe nicht immer sehr intelligent. Tschernjajew hat den Gorbi in gewisser Hinsicht zur Wiedervereinigung angestachelt.

Und wenn Gorbatschow auf seine Fachleute von Ihrer „germanistischen Gruppe“ gehört hätte?

Wäre es auch zur Wiedervereinigung gekommen. Wir waren sogar die ersten, die sie zu denken wagten. Aber es ist die Frage, ob es nicht für alle Beteiligten besser gewesen wäre, wenn sie sich nicht so schnell und nicht in dieser Anschlussform vollzogen hätte. Falin war der Hauptstratege der Wiedervereinigung bis zum 10. Februar 1990, als man ihn aus dem Verhandlungsprozess hinausekelte. Es gehört zur Dialektik der Geschichte, dass Sie die ganze Art, wie die Wiedervereinigung nun einmal gelaufen ist, außer Gorbatschow selbst, diesem Herrn Tschernjajew zu verdanken haben, der nicht die allergeringste Ahnung von Deutschland besaß.

Der falsche Mann saß für uns zufällig am richtigen Platz?

Wenn Sie so wollen, ist die Geschichte fast immer ein solcher Zufall.

Und der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse?

Schewardnadse ist ein schillernder Gauner. Er hätte nie etwas unternommen, was ihm keine Dividenden einbachte. Solange die entsprechende Haltung bei Hofe groß geschrieben wurde, konnte man keinen geharnischteren Feind der deutschen Wiedervereinigung finden als Schewardnadse. Aber er verfügt über einen großartigen Riecher und so eine gewisse Händlerschläue. Er spürte als erster die große Wende im Inneren Tschernjajews und heimste später an dessen Stelle den ganzen Ruhm ein.

Der Autor, ob nun Gorbatschow oder Tschernjajew, nennt eine ganze Menge Gründe dafür, warum er sich für die Wiedervereinigung einsetzte.

Die ganz große Frage kann er nicht beantworten, weil es darauf keine logische Antwort gibt: Wieso am 4. Dezember 1989 beim Genscher-Besuch in Moskau die zehn Punkte Kohls noch als „revanchistische Marschmusik“ empfunden wurden, wie es in dem Artikel heißt. Und anderthalb Monate später hatte Gorbatschow schon an der Kette gezogen – unsere Trümpfe waren im Abfluss. Es muss da Ende Januar einen grundsätzlichen Gesinnungswandel bei Gorbatschow und Tschernjajew gegeben haben.

In dem Artikel werden sehr hehre Ziele der sowjetischen Wiedervereinigungspolitik genannt, zum Beispiel: Man habe nicht der jungen deutschen Generation die Schuld für die Vergangenheit anlasten wollen.

Das alles hat Tschernjajew überhaupt nicht bewegt. Der Mann war ganz einfach fürchterlich stur. Er jagte den Illusionen nach, die Amerikaner seien allmächtig, und es ließe sich mit ihnen über alles reden. Tschernjajew setzte sich in seinen Knochenkopf: Wir bekommen von den Amerikanern als Dank die große Abrüstung und Friede, Freude Eierkuchen. Außerdem: Wenn die Amerikaner darauf bestehen, Deutschland sich wiedervereinigen zu lassen, und zwar auch noch in der Nato, so können wir dem nichts entgegenstellen. Wir könnten höchstens Blut vergießen.

Das stimmte nicht?

Uns standen durchaus andere Möglichkeiten offen. Besonders nach Kohls zehn Punkten hatten wir ein ganz großartiges Spektrum davon. Damals hätten wir den Kohl an seinem dicken Bauch packen und sagen müssen: Na schön, jetzt gießen wir das Ganze mal in eine internationale juristische Form, und zwar zu dritt, mit der DDR, und dann gründen wir eine deutsch-deutsche Konföderation. Ich sage nicht, dass das mit hundertprozentiger Sicherheit geklappt hätte. Aber wir hätten es versuchen müssen. Unser Zeitfenster war sehr eng. Nach der Währungsreform war dieses Modell von der Geschichte überholt.

Vorher hätte man sogar die Nato sprengen können?

Jetzt behaupten alle Memoirenschreiber, es sei damals ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, Deutschland und Kohl aus der Nato herauszueisen. Aber es hat ja gar keiner versucht! Noch im Oktober hatte Kissinger zu Bush gesagt: Geben Sie acht! Wenn die Russen klug genug sind, dem Kohl eine verlockende Offerte zu machen, kann ich nicht ausschließen, dass er sich mit wehenden Fahnen auf einen Sonderweg gen Osten begibt. Ich meine: Man hätte den Kohl sogar noch nach dem Februar unter Druck setzen müssen und sagen: O.k., die innere Wiedervereinigung ist eure Sache, aber ihr bekommt keinen Friedensvertrag und – so weit es von uns abhängt – keine internationale Anerkennung. Wenn ihr schon in der Nato bleiben wollt, dann nur wie die Franzosen ohne militärische Einbindung.

Spielte es bei alledem auch eine Rolle, dass Gorbatschow im Ausland Zustimmung für seine Innenpolitik wollte?

Unter anderem. Niemand konnte sich damals allerdings vorstellen, dass es in der Folge von alledem zum Zerfall der Sowjetunion kommen würde. Und was haben wir jetzt: ein Nato-Protektorat in ganz Europa. Wir haben eine einmalige Chance der sowjetischen Politik verspielt, nämlich, die Allianz Deutschland – Russland wiederherzustellen, die sich seit Rapallo geopolitisch und geostrategisch latent immer anbot.

Zurück zum Blutvergießen. Gab es denn bei den Sowjets keine mächtige Fraktion, die das befürwortete?

Eine Fraktion gab es schon, aber mächtig war sie nicht. Gegen ein Dekret des Generalsekretärs konnte sie nichts ausrichten. Und Gorbatschow – trotz seiner Schwäche, seiner Doppelzüngigkeit, trotz seiner vielen Fehler –, gerade in diesem Falle zeigte er ein großes staatsmännisches Format. Täglich gab es Tatarenmeldungen über alle möglichen dräuenden Gefahren vom Oberkommandierenden der Heeresgruppe West. Aber Gorbatschow – das sei zu seinem Ruhme gesagt – war durch all dies nicht zu bewegen. Und seine kaiserliche Macht reichte aus, um das Oberkommando der Streitkräfte, den KGB und unsere Botschaften in Deutschland dazu zu vergattern: Lasst die Deutschen weitermachen! Er, der so selten in seinem Leben Entschlossenheit zeigte, war in dieser Frage eisern entschlossen. Und dafür hat er ein Gorbi-Denkmal in Berlin verdient. Interview: Barbara Kerneck

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