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Minarett über Wilhelmsburg

Europa-Union diskutiert Zusammenleben von Deutschen und Türken  ■ Von Gernot Knödler

In Wilhelmsburg gibt es eine türkische „Parallelgesellschaft“. Wer als TürkIn dort wohnt, kann aufs Deutsche weitgehend verzichten: Vom türkischen Gemüseladen über den Frisör und die Moschee bis zum Sportverein können sich WilhelmsburgerInnen in einer türkischen Welt bewegen. Wie die Menschen im Stadtteil mit den Folgen, die sich aus diesem unwidersprochenen Bild ergeben, umgehen können, war Thema einer Tagung der Europa-Union am Sonnabend auf der Elbinsel.

Hildebrand Henatsch, seit 20 Jahren Pastor im Westen Wilhelmsburgs, beschrieb, warum sich das Lebensgefühl im Viertel „stark verändert“ hat: Seit der Sturmflut von 1962 verließen Deutsche den Stadtteil. Rund ein Drittel der Bevölkerung sei heute ausländischer, überwiegend türkischer, Abstammung. Ganze Quartiere, wie etwa das Bahnhofsviertel und der Vogelhüttendeich, seien türkisch geprägt. Deutsche Geschäfte gäben auf, weil sich ihre Kundschaft auflöse. In manchen Schulklassen sässen bis zu zwei Dritteln Kinder ausländischer Abstammung.

Wenn bei den bis zu 35jährigen die AusländerInnen in der Überzahl seien, könne keine Integration mehr stattfinden, warnte Marie Luise Groß von der CDU Wilhelmsburg. Mit Türkisch als Pausensprache etwa werde den Kindern kein Gefallen getan. Die Kenntnis der Sprache sei „entscheidend, um in die Mentalität des anderen einzudringen“.

Mit ihrer Position, die AusländerInnen müssten Deutsch lernen, stand sie unter den Debatten-RednerInnen alleine da. Die ausländischen Schüler seien nun mal vorhanden, argumentierte Hamburgs Ausländerbeauftragte Ursula Neumann. Deshalb müsse man die verschiedenen Sprachen im Unterricht nutzen. Die Sprachschwierigkeiten sollten Deutsche und Ausländer als gemeinsame Probleme betrachten, plädierte der in Wilhelmsburg aufgewachsene Student Muammer Kazanci.

„Integration“, das sei die „gleichberechtigte Teilhabe an den Angeboten des Systems“, hatte der Dortmunder Professor Thomas Meyer zuvor definiert. Der Lebensstil und die Religion eines Menschen hätten damit nichts zu tun. Verschiedene RednerInnen äußerten daher ihr Unverständnis darüber, dass AusländerInnen nicht das kommunale Wahlrecht haben und dass es so schwierig ist, eine große Moschee für alle Muslime in Wilhelmsburg zu bauen.

„Die Politik muss sich klar werden, dass man die Muslime nicht verstecken soll“, sagte Ahmet Yazici vom Bündnis islamischer Gemeinden in Norddeutschland. Ursula Neumann verlangte eine Professur für islamische Theologie und Pastor Henatsch den interreligiösen Dialog. „Die Frage ist nur, ob wir von unserer, der christlichen Seite her diesem Dialog gewachsen wären“, sagte Henatsch. – Eine Frage der eigenen Glaubensgewissheit, wie Marie Luise Groß klar machte: „Praktizierende Christen haben mit einer Moschee die wenigsten Probleme“, stellte sie fest.

Schon zuvor hatte Meyer darauf hingewiesen, dass das inbrünstige Praktizieren einer Religion nichts mit Fundamentalismus zu tun habe. „Fundamentalist“ sei lediglich derjenige, der aus einem absoluten Gewissheitsanspruch eine Überlegenheit ableite und daraus das Recht, den anderen Regeln vorzuschreiben. Empirisch habe sich gezeigt: Verweigert eine Mehrheitsgesellschaft einer Minderheit die Anerkennung, so bringt das ein Drittel der Minderheit dazu, „kompensatorisch eine fundamentalistische Identität auszubilden“.

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