: Die Feierstunde ist ein Spiegel für die Gesellschaft“
■ Bei einer Umfrage auf dem Alexanderplatz zeigen Passanten wenig Begeisterung für die zentrale Gedenkstunde zum Mauerfall-Jubiläum – und den Festredner Joachim Gauck: Andere hätten mehr Recht für die Bürgerrechtler zu sprechen
Michael Thiele (22), Altenpfleger aus Grimma bei Leipzig: „Ich finde es nicht so gut, dass Gauck redet. Man sollte verschiedene, ganz normale Leute sprechen lassen, auch aus anderen Schichten. Auf jeden Fall sollte es jemand aus dem Osten sein, vielleicht jemand aus dem Raum Leipzig, denn da fing das Ganze ja an. Es wird sowieso noch mindestens zehn Jahre dauern, ehe die Ost-West-Probleme gemildert sind. Aber ich gehöre zu den geduldigen Menschen. Man sollte das zehn Jahre danach auch nicht feiern, sondern eher gedenken, nachdenken. Insgesamt aber ist es gut, wie es gekommen ist. Ich möchte auf keinen Fall wieder mit früher tauschen – trotz aller Unkenrufe.
Elisabeth Zorn (33), Dipl.-Biologin, aus Hechendorf (Bayern): „Die Gauck-Behörde macht zwar eine ganz wichtige Arbeit, aber von der Bevölkerung wird sie halt doch eher mit der Nach-Wende-Zeit in Verbindung gebracht. Deshalb sollte nicht Gauck sprechen, sondern jemand ganz aktiv bei der Wende waren, etwa am Runden Tisch. Aber offenbar haben viele von denen resigniert, vielleicht wollten sie deshalb nicht reden. Ich habe schon zu DDR-Zeiten Kontakt mit Leuten aus Ostdeutschland gehabt, aus Kirchenkreisen. Um die haben sich die West-Politiker sehr wenig gekümmert – aber dann haben sie die Wende für sich vereinnahmt, das mich von Anfang an aufgeregt.
Willi Schmedemann (67), Rentner aus Berlin-Mitte: „Die Wahl Gaucks als Redner ist ein Fehlgriff. Ich habe jetzt in einer Zeitung eine Sammlung von Fotos früherer Bürgerrechtler gesehen – ein Herr Gauck war da nicht dabei. Gauck wird zu sehr nur mit der Stasi in Verbindung gebracht, und die DDR war mehr als die Stasi. Er hat nicht das Recht für die Bevölkerung der DDR zu reden. Nach dem Mauerfall wurden viele Ost-Betriebe platt gemacht, das war schlimm. Die Gedenkstunde werde ich mir nicht anschauen. Denn die Leute, die reden, sprechen mich nicht an. Und der Kohl, der auch redet, soll erst mal nach seinen blühenden Landschaften suchen.
Knut Sönnichsen (28), Jura-Referendar aus Prenzlauer Berg: „Ich finde es in Ordnung, dass Gauck redet, schließlich ist er der Mann, der am meisten Einblick in die ganze Geschichte hat. Außerdem sollte man das alles nicht so sehr an einer Person festmachen und erst einmal abwarten, was er überhaupt sagt, bevor man urteilt. Grundsätzlich fand ich das sehr unglücklich, wie die Diskussion über die Rednerliste für die Feierstunde gelaufen ist: Dass man erst so spät darauf kam, man bräuchte neben Thierse noch jemanden von den Bürgerrechtlern. Da würde ich Frau Schipanski recht geben, die gesagt habe, dass sei symptomatisch für das Verhältnis zwischen Ost und West.
Andreas Nordmann (40), Informatiker aus Berlin-Mitte: „Es sollten die reden, wie etwa Bärbel Bohley, die damals aktiv waren. Jetzt feiern wieder die oben eine Sache, die die Leute unten erst möglich gemacht haben. Es war eine Masse, die die Wende erreicht hat. Aber ich bin sowieso nicht für eine Gedenkstunde – das klingt immer so nach Tod.Und das alles ist noch zu jung: Die Vereinigung ist ja ein Prozess, der immer noch nicht abgeschlossen ist, und er fing schon vor dem 9. November 1989 an. So wie die Feierstunde geplant wurde, ist sie ein Spiegel für die Gesellschaft. Na ja, eine große Bedeutung wird sie eh nicht haben.“ Fotos und Umfrage: Philipp Gessler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen