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Weil wir in dieser Stadt leben müssen

Sprechende Steine, Dokumente der Fremdheit: Das Arsenal zeigt in der Reihe „Das Auge des Wirbelsturms“ Filme von Berliner DAAD-Stipendiaten aus drei Jahrzehnten. Sahneträume sind die Ausnahme  ■   Von Philipp Bühler

Zeugnisse die Stadt, ihrer Bewohner, der Mauer und der ewigen Bewegung der Verkehrsströme

1974, da war er immerhin schon fünfzig Jahre alt, kam Marcel Broodthaers als Stipendiat des DAAD nach Berlin. Er drehte gleich einen hübsch surrealistischen Film namens „Berlin oder ein Traum mit Sahne“, in dem er sein Töchterchen, die Spree und die am Fenster vorbeischippernden Lastkähne durch seine sahneverschmierten Brillengläser betrachtet. Papa war über seinem Kuchen eingeschlafen. Voll der Euphorie über die erstaunlichste Stadt des Universums, schrieb er dann noch den Text „Berlin oder das Auge des Wirbelsturms“. Den Titel hat sich nun das Berliner Künstlerprogramm des DAAD für eine kleine Filmreihe ausgeliehen. Ab heute sind im Arsenal Berlinfilme von DAAD-Stipendiaten aus drei Jahrzehnten zu sehen. Es sind Zeugnisse einer direkten Konfrontation mit der Stadt, ihren Bewohnern, der Mauer und der ewigen Bewegung der Verkehrsströme. Vor allem aber: Dokumente der Fremdheit.

Broodthaers' Sahneträume sind die Ausnahme. Einigen Künstlern muss sich ihr Aufenthalt in Berlin traumatisch in die Psyche eingegraben haben. Was den „Wirbelsturm“ angeht, so mögen gerade die amerikanischen Gäste den Respekt vor den heimischen Hurricanes verloren haben, angesichts dessen, was ihnen hier an Zerstörung und Verderben vor die Linse kam. Daniel Eisenberg zum Beispiel, der sich 1991 im Osten umgesehen hat, musste seine düsteren Bilder in „Persistence“ mit Szenen aus Rossellinis Trümmerdrama „Germania: Anno Zero“ zusammenschneiden, um dem Gedankenstrom seines psychografischen Umherschweifens überhaupt visualisieren zu können. Am Ende, in der Grabesruhe nach dem großen Sturm, bleibt doch alles gleich. Dabei sind Eisenbergs sprechende Steine noch relativ angenehme Zeitzeugen. Denn so, wie er der Stadt und ihrer Geschichte in den finsteren Rachen sah, schaute Shelly Silver 1994 bei einer Bürgerbefragung dem Volk aufs Maul – mit ungleich deprimierenderem Ergebnis.

Weil wir schließlich in dieser Stadt leben müssen, halten wir uns da lieber an den guten alten Spielfilm. Besonders viele sind im Rahmen der DAAD-Stipendien nicht entstanden: Den oft recht einzelgängerisch vorgehenden Künstlern lag die grüblerische Vivisektion des vorgefundenen Stadtkörpers eindeutig näher als das Geschichtenerzählen. Wer es dann doch tat, kooperierte meist mit einheimischen Filmemachern. So entstand Jean-Philippe Toussaints und Torsten Fischers wunderbarer „Berlin 10:46“.

Das ZDF-Fernsehspiel führt an einige der Orte, die uns in Berlin wichtiger sind als jede Mauer. Das Gartenbad zum Beispiel, wo ein hartnäckig schweigender Russe – er stellt sich später folgerichtig als Schachweltmeister heraus und würde einer Kaurismäki-Figur alle Ehre machen – die letzten Bahnen vor dem großen Match zieht. Oder der Stehimbiss „Schlemmer-Pavillon“ am Rosa-Luxemburg-Platz, wo man sich in der Volksbühnenpause – drei Stunden Marthaler hinter, zwei noch vor sich – so gern die wohl verdienten Pommes reinhaut. Hier klatscht ein liebenswerter Killer, von dem man nur weiß, dass er gerade im Scheunenviertel einen ekligen Galeristen umgenietet hat, zuerst den Revolver in die Ketchupreste und das Ganze dann in den Müll. Ein schönes Bild und ein Wissen, das in diesem Moment ungeheuer wertvoll erscheint. Denn in Toussaints Film lernen wir die Menschen genauso langsam kennen wie im richtigen Leben – und manchmal überhaupt nicht. Es handelt sich um eine Aneinanderreihung beiläufiger Momente, aus denen sich Geschichten entwickeln können: ein Verbrechen, eine neue Freundschaft, und Liebe.

Diese assoziative Herangehensweise ist es, die den zunächst untypischen „Berlin 10:46“ mit den anderen Filmen verbindet. Es ist das erwartete, aber künstlerisch notwendige Fazit dieser Filmreihe, dass es keinem der Gäste möglich war, in der zerrissenen Stadt eine Geschichte von Anfang bis Ende zu erzählen.

Eine Station aus „Berlin 10:46“ sei noch genannt, weil sie in nahezu jedem der DAAD-Filme ihren festen Platz hat. Das Marx-Engels-Denkmal gegenüber dem Palast der Republik. Diese heilige Stätte wird nun von einer japanischen Reisegruppe zum Volleyballspielen missbraucht. So weit ist es schon gekommen. Prompt kriegt der Berühmtere der beiden Herren den Ball an die Birne. War er nun ein großer Philosoph? Vermutlich. Aber er war todsicher ein verdammt schlechter Kopfballspieler.

Bis zum 19. November. Die Reihe wird heute Abend mit Daniel Eisenbergs Film „Persistence“ eröffnet, um 21 Uhr im Arsenal, Welserstraße 25

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