Fröhlicher Größenwahn

■ Das Theater „ars Invert“ entdeckt Hans Henny Jahnn neu

Was für ein Spielort. Draußen, da, wo sich Fuchs und Haase gute Nacht sagen, inmitten einer unbewohnten, wüsten Landschaft: in der Gasstraße in Hamburg-Bahrenfeld also, da steht sie, die Fabrikhalle des ehemaligen Gaswerks. Ach was, Halle. Eine Kathedrale von einem Industriedenkmal steht da, mit unendlich vielen kleinen Fenstern und einem 26 Meter hohen Dach, das getragen wird von einer beeindruckenden Stahlkonstruktion. Man kann sich an das Kampnagel-Gelände erinnert fühlen, als die dortige Halle noch nicht unterteilt war. Techno-Veranstaltungen finden hier in Bahrenfeld statt. Und seit Mittwoch wuchtet die freie Hamburger Theatergruppe ars Invert unter der Regie von Torsten Diehl an diesen Ort ein Theaterereignis: die Wiederentdeckung von Hans Henny Jahnns Stück Der Arzt / Sein Weib / Sein Sohn.

Eine Inszenierung an so einem Ort, das ist natürlich keine Aufführung in einer, sondern gegen eine Halle. Diesen Kampf nimmt Torsten Diehl mit Elan auf. Wenn der Arzt (Erich Krieg) und sein Weib (Sabina Annette Khan) miteinander streiten, dann tun sie es in 20 Meter Entfernung voneinander. Es gibt in einer 70 Meter langen und 30 Meter breiten Halle, in der etwa 100 Zuschauer sich verlieren, eben viel Platz zu füllen. Oft steht eine Figur auf einem Podest, während die andere auf dem Betonboden kauert. Licht gibt es in allen Variationen, als gleißendes Gegenlicht, als sanft glimmerndes Licht, das über den Boden verteilte Eisblöcke von innen erleuchtet; einmal blinzelt auch ein Scheinwerfer wie ein Mond von außen in die Halle hinein. Und der Stollen, der in das gewaltige Grab des Arztes Professor Menke führt, scheint sich, rechts vom Zuschauer, in der Weite dieser Halle zu verlieren.

Sich diesen Ort theatralisch zu erobern, hat die Theatertruppe keine Idee gescheut. Allein: Es ist vergeblich, die Halle gewinnt. Denn während die Aufführung nach den Theater-Sternen greift, bricht ihr ganz banal der Hocker unter den Füßen weg. Worüber Kritiken sonst selten berichten, darf hier nicht verschwiegen werden: Die Begleitumstände dominieren über weite Strecken die Aufführung.

Daß es in der nicht beheizten Halle bei der Premiere bitterkalt war, mag angehen. Auch daß man schon in der vierten Zuschauerreihe nichts sah, ist in Ordnung. Da schaute man sich die Aufführung eben zweieinhalb Stunden lang stehend von der Seite an. Allerdings hätte man schon gerne etwas von dem Text verstanden. So simple Dinge wie die Akustik hat die Gruppe allzu lässig behandelt, und so kamen die meisten der vielen Dialoge beim Zuschauer nur als Hall, als Dröhnen an.

So war die Inszenierung erst in zweiter Linie – aber dann eben doch noch! – die gelungene Wiederentdeckung eines Stückes. Seit seiner Uraufführung im Jahre 1928 ist Der Arzt / Sein Weib / Sein Sohn in Hamburg nicht mehr gespielt worden. Neben großen theatralen Möglichkeiten entdeckte die Gruppe (Dramaturgie: Jan Bürger) darin viel jugendliches Aufbegehren. Die schönsten Szenen waren die um die beiden Söhne Karl (Michael Hasenfuß) und Ulrich (Carsten Böhme): Da schrumpfte dann die Halle für Momente auf Kammerspielgröße zusammen.

Überhaupt kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, diese Art, Hans Henny Jahnn zu inszenieren, sei die beste: mit fröhlichem Größenwahn, sich um die Zuschauer nicht kümmernd. Torsten Diehl hält sich an die Wallungswerte dieses Autors und bringt – wenn auch noch undifferenziert und ideenverliebt – viel von seiner Kraft und seinen Impulsen rüber. So gibt es doch noch Entdeckungen zu machen: in Hallen, Stücken und bei freien Theatergruppen.

Dirk Knipphals

Gasstraße 2a, bis 26. 11. und 29. 11. bis 3. 12., jeweils 20 Uhr, Infos unter Tel. 890 31 24.