Mit den Beben leben lernen“

■  Wie man in Istanbul versucht, sich auf das nächste große Erdbeben vorzubereiten

Istanbul (taz) – „Seien Sie bereit, es kann jederzeit passieren“ – nach dem zweiten großen Beben in Düzce hat der oberste türkische Erdbebenforscher Großalarm gegeben. Für die 80.000 Einwohner zählende Stadt Akyazi, ungefähr auf der Mitte zwischen Düzce und Istanbul, müsse in allernächster Zeit mit einem weiteren Beben von mehr als 6 auf der Richterskala gerechnet werden, sagt Ahmet Mete Isikara, Chef des Seismologischen Instituts an der Istanbuler Universität.

Danach müsse man davon ausgehen, dass die Bruchlinie weiter nach Westen, also unter dem Marmarameer, unmittelbar vor Istanbul in Bewegung gerät. „Die Energie im östlichen Teil des Nordanatolischen Grabens“, sagt Isikara, „hat sich jetzt entladen. Es ist zu befürchten, dass dasselbe nun im Westen geschieht.“

Es gäbe, sagen die Forscher, eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 90 Prozent, dass innerhalb der nächsten 30 Jahre ein ganz schweres Beben Istanbul erschüttert. Die Meldungen der Erdbebenexperten sorgten bereits am Wochenende an einigen Orten für Panik.

Besonders die Einwohner von Akyazi sind in Aufregung. Die kommunalen Behörden denken über eine Evakuierung nach. Aber auch im gesamten Großraum Istanbul herrscht Alarmstimmung. Die Menschen fühlen sich den kommenden Entwicklungen hilflos ausgeliefert.

Psychologen sprechen bereits davon, dass posttraumatische Stresssymptome zu Massendepressionen führen können. Eine solche Entwicklung müsse aktiv bekämpft werden. Ein Mittel dagegen ist eine Schulung der Bevölkerung über den Umgang mit Erdbeben. „Wir müssen mit den Beben leben lernen“, sagt auch Isikara. Die Schulen verteilen bereits Broschüren, in denen Verhaltensmaßnahmen bei Erdbeben beschrieben werden.

Tatsächlich ist es so, dass Leute, die für den Ernstfall nicht vorbreitet sind, auch nicht reagieren können. Während des Augustbebens hat eine Gruppe japanischer Touristen gezeigt, was das heißt. Während alle Menschen versuchten, auf die Straße zu rennen, stiegen die Japaner auf das Dach ihres Hotels – und überlebten.

In Istanbul sollen jetzt Selbsthilfegruppen gebildet werden, in denen dieses Verhalten geübt wird.

Auf zwei Konferenzen seit dem Augustbeben beschworen Experten aus anderen Weltgegenden die Notwendigkeit einer kleinteiligen Organisation auf Stadtteilebene. Die effektivsten Retter, beschrieb ein Vertreter aus Kalifornien sein Vorbeugeprogramm, sind deine Nachbarn. Wenn alle wissen, was sie zu tun haben, kann die Zeit gut genutzt und viele gerettet werden.

Was per Nachbarschaftshilfe nicht zu bewältigen ist, will nun der Staat endlich angehen. Am Samstag kündigte Innenminister Tantan an, man werde ganz Istanbul in den kommenden Monaten einer Inventur unterziehen und sämtliche 700.000 Gebäude der Stadt auf ihre Erdbebensicherheit überprüfen. Vor allem Schulen und Krankenhäuser müssen untersucht und gegebenenfalls nachgebessert werden. Der Katastrophenschutz der Stadt muss überholt werden und die gesamte Infrastruktur gegen Erdbeben besser gesichert werden. Das betrifft Wasser-, Gas- und Stromleitungen und die Kommunikationsmittel.

Doch letztlich, das wissen natürlich die Experten so gut wie die Bewohner der Stadt, kann der Moloch Istanbul nur sehr bedingt gegen ein schweres Beben geschützt werden. An der Technischen Universität in Istanbul wurden Szenarien erstellt, die aufzeigen, welche Stadtteile in Istanbul mehr oder weniger betroffen sein werden und wo die Hilfmaßnahmen deshalb konzentriert werden müssen. Das absolute Worst-Case-Szenario für Istanbul bei einem Beben von 8 oder mehr auf der Richterskala prognostiziert fünf Millionen Tote. Jürgen Gottschlich