Schöne Ordnung

■ Altes Berliner Kind: Jenny Erpenbeck las in der Buchhandlung Dante Connection

Bereits fünf Minuten vor acht ist die Kreuzberger Buchhandlung Dante Connection mit etwa dreißig Leuten sehr gut gefüllt. Leute, die zu spät kommen – also eigentlich pünktlich –, werden in Folge von den besser sitzenden Besuchern mit geringschätzigen Blicken abgestraft. Dementsprechend ist die gesamte, knapp einstündige Lesung von Jenny Erpenbeck von den gewichtigen Blicken der Kulturhüter geprägt, denn die Blicke schaffen auch den Raum für die bewusst betonungslose Stimme der Autorin.

Dabei scheint Jenny Erpenbeck, die jüngst vom Spiegel als Teil des literarischen „Fräuleinwunders“ entdeckt wurde, durchaus keine schüchterne Person zu sein. Im Gegenteil, sie ist offen, zeigt sehr viel Charisma und berlinert munter drauflos. Und sie kann als gelernte Dramaturgin die Rolle, die sie ihrem Text und den seriösen Kulturgenießern schuldet, sehr gut darstellen. Ihr erstes Buch, die Novelle „Geschichte vom alten Kind“, handelt von einer Frau, die versucht, sich aus der Erwachsenenwelt in eine vorpubertäre Kindheit zurückzuflüchten.

Sie wird von der Polizei aufgegabelt und in ein Heim verbracht, um dort als dümmstes unter den Kindern leben zu müssen. Ihre Vergangenheit hat sie verdrängt. Und die Gegenwart? Ganz unten muss sie in der Schulklassenhierarchie – sie kennt die unter den Kids gängigen Codes nicht – Teil der Gemeinschaft sein, muss auf diesem Weg ihre „Unschuld“ zurückerlangen. Erpenbeck wählt Stellen aus ihrem Buch, in denen sich das „alte Kind“ an seine Vergangenheit erinnert und diesen merkwürdigen Erinnerungen mit einem ans Fanatische grenzenden Ordnungswahn begegnet. Denn nur in einer totalen Ordnung fühlt sich dieses „Kind“ geborgen.

Diese Geschichte beruht, so enthüllte Erpenbeck nach der Lesung, auf einer realen Begebenheit: Ihre Großmutter und ihre Cousine hatten vor rund fünfzehn Jahren tatsächlich Kontakt zu einem Mädchen aus einem Kinderheim, das sich später als mindestens dreißigjährige Frau entpuppte. Doch wollte Jenny Erpenbeck, wie sie auf Anfrage betonte, nicht nur den diesem Verhalten zugrundeliegenden psychischen Druck erforschen. In ihrer Geschichte ginge es vielmehr darum, die „Zeit umzudrehen“ und wieder „Kind“ zu werden.

Dass so eine Vorstellung von Kindheit auch was militärisches oder BDM-mäßiges hat, ist Erpenbeck an diesem Abend genauso egal wie dem Großteil des Publikums. Im Gegenteil: Bei der an der Lesung anknüpfenden Diskussion einigen sich alle darauf, dass unter einer schönen Ordnung durchaus eine romantische Freiheit verborgen liegt. Man schwatzte lachend über die Defekte und schwärmte seufzend von der romantischen Erpenbeck-Figur. Sehnsüchtig Autoritätsgläubige schienen sich da ihrer selbst zu vergewissern, und als sich Publikum und Autorin dann beim Wein verbrüderten und verschwesterten, hieß es für mich, schnell die Beine in die Hand zu nehmen und zu verschwinden.

Jörg Sundermeier