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Wörter mit „h“ haben eine Seele

Wenn in Zagreb die Zuschauer im Kino über neue untertitelte Filme lachen, weil ihnen die kroatische Untertitelung unverständlicher ist als das serbische Original: Über die politisch motivierte Sprachentwicklung und Sprachteilung auf dem Balkan  ■   Von Klaus Buchenau

Leider wissen die meisten Menschen nicht, was Schrippen mit Politik zu tun haben. Sie wollen nur, dass sie außen knusprig und innen flauschig sind, satt machen und nicht mehr als dreißig Pfennig kosten. Manche wissen auch, dass man Schrippe anderswo „Brötchen“ oder „Semmeln“ nennt. Mit diesen Doubletten kann man Bayernwitze machen oder Deutsch lernende Ausländer verwirren. Dass man aber mit Schrippen, Semmeln und Brötchen auch Nationen schaffen und wieder zerstören kann, ist den wenigsten klar.

Wer heute im Raum des ehemaligen Serbokroatischen lebt, also in Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina oder in Montenegro, weiß das genau. Wenn eine Belgraderin in eine Zagreber Bäckerei geht, ahnt sie die semantische Bombe, die sich im Brot versteckt. Denn letzteres heißt in Kroatien „kruh“, in Serbien „hleb“. Früher war es nicht so schlimm, wenn jemand „hleb“ bestellte, man wusste dann eben: einer aus dem Osten. Die weltweite Sprachwissenschaft deckte diese Laxheit: Sie stellte sich auf den Standpunkt, dass „kruh“ und „hleb“, genauso wie eine ganze Reihe anderer sprachlicher Erscheinungen, Ausdruck der westlichen und östlichen Variante des Serbokroatischen seien, einer Sprache, die als einheitlich galt. Heute dagegen werden Serbisch und Kroatisch als zwei verschiedene Sprachen anerkannt. Und in der Zagreber Bäckerei könnte es passieren, dass die Verkäuferin jenes „hleb“, das nun unbedingt „kruh“ zu heißen hat, als Wurfgeschoss gegen die Belgrader Kundin einsetzt ...

Tatsächlich existierte am Beginn des 19. Jahrhunderts und existiert teilweise immer noch unter den Slawen der Balkanhalbinsel ein Dialektkontinuum, bei dem sich die mündliche Sprache im Raum fast stufenlos veränderte, so dass es schwer war, sprachliche Grenzen zu setzen. Wo Slowenien aufhört, Kroatien anfängt, wo der Übergang von Serben zu Kroaten liegt – an sprachlichen Merkmalen vor Ort konnte man sich damals nicht zweifelsfrei orientieren. Denn diese Grenzen entstanden erst im Zusammenwirken von harter philologischer Arbeit – Grammatiken und Wörterbücher mussten geschrieben, Rechtschreibregeln festgelegt werden – und politischem Wollen.

Als die Kraft, die an der Schaffung einer Nationalsprache interessiert ist, kann in der Regel ein städtisches Bürgertum mit nationalem Selbstbewusstsein identifiziert werden; ein kulturelles Zentrum, wo schon sprachliche Vorarbeit geleistet wurde, und ein politisches Zentrum, das diese Sprache in Schule und Verwaltung durchsetzt. Dabei kennt die Geschichte der so genannten „Sprachstandardisierung“ einfache und schwierige Fälle. Eher einfach ist der französische, wo sich schon früh ein kulturelles und gleichzeitig politisches Zentrum im Norden, in Paris herauskristallisierte. Hier konnte es keinen Streit geben, ob man nicht doch einen südfranzösischen Dialekt zur Standardsprache erhebt. Der serbokroatische Fall freilich zählt zu den schwierigen. Denn hier scheinen die mundartlichen und zivilisatorischen Unterschiede nicht groß genug: Fast alle Serben und die Mehrheit der Kroaten sprachen zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen weitgehend identischen Dialekt. Daher konnten sich im Jahr 1850 in Wien die führenden serbischen und kroatischen Schriftsteller und Philologen jener Zeit treffen und beschließen, eben jenen weitverbreiteten Dialekt (den neuštokavischen, nach dem Wort „što“ für „was“) zur Grundlage einer gemeinsamen Schriftsprache zu machen.

Die Entscheidung von 1850 wurde in einer Atmosphäre getroffen, die das Konfliktpotenzial verbarg. Der gemeinsame Feind der Serben und Kroaten hieß zu dieser Zeit Ungarn, und von einer sprachlichen Einigung erhoffte man sich die Stärkung des „südslawischen Faktors“ in der Habsburger Monarchie. Auf den jungen serbischen Staat schauten viele Kroaten mit Sympathie, auch wenn die kroatischen Einigungsszenarios keineswegs einen Anschluss der kroatischen Gebiete an Serbien vorsahen. Die gemeinsame Sprache nannte die kroatischen Philologen dieser Zeit bezeichnenderweise mit einem übergeordneten Namen: „Illyrisch“, nach den Illyrern, den imaginierten gemeinsamen Vorfahren der Südslawen. Der Sprachwissenschaftler Vuk Karadžic sagte dagegen von vornherein „serbisch“ und erklärte alle Sprecher des Neuštokavischen für „Serben“. Im Kontext seiner Zeit konnte Karadžic zwar als modern gelten, denn er löste die gängige Gleichsetzung von Serbentum und orthodoxem Glauben auf und stellte den serbischen Nationenbegriff auf eine überkonfessionelle Grundlage. Damit aber aus den dalmatinischen, slawonischen oder bosnischen Neuštokavern samt und sonders „Serben“ würden, hätte es auch einer kulturellen Anziehungskraft Serbiens bedurft, die so nicht gegeben war.

Bald nach der Gründung des ersten Jugoslawien 1918 zeigte sich, dass die Entscheidung von 1850 längst nicht alle Kommunikationsprobleme zwischen Serben und Kroaten ausgeräumt hatte. Die Kroaten begannen bald, sich gegen den politischen Zentralismus Belgrads zu wehren. Die Sprachfrage geriet in den Strudel der Leidenschaften: Anfang der 30er-Jahre meinten etwa die kroatischen Sprachpfleger Petar Guberina und Kruno Krstic, dass „die Kroaten nach 1918 jedes Wort als fremd empfinden, das aus Belgrad kommt“.

Als Hitler und Mussolini 1941 Jugoslawien zerschlugen und in Kroatien der faschistischen Ustascha-Bewegung zur Macht verhalfen, hatten Sprachideologen nun vier Jahre lang Zeit, das Kroatische dem Serbischen so unähnlich zu machen wie möglich. Die Tito-Partisanen, die schließlich im Frühjahr 1945 in Zagreb einmarschierten, bereiteten der Ustascha-Sprachpolitik ein Ende und setzten wieder auf Zentralisierung. Aber die Sollbruchstellen des nun auferstandenen „Serbokroatischen“ standen seit den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit fest.

Mit dem Zerfall Jugoslawiens zu Beginn der 90er-Jahre wollte jede Nation, die sich nun zur Emanzipation anschickte, ihre Rechte durch eine eigene Sprache untermauern. Daher ist das Serbokroatische nun nicht nur in die Bestandteile „Serbisch“ und „Kroatisch“ zerlegt worden – zwei weitere Erben, das Bosnische und das Montenegrinische, haben ebenfalls Ansprüche auf die sprachliche Konkursmasse angemeldet.

Wie immer man die Nachfolgesprachen des Serbokroatischen einschätzen mag – bei allen „leidet“ die Selbstständigkeit daran, dass ihre Grundlage ein und derselbe Dialekt bleibt. Der Verselbständigung des Kroatischen, das einen beträchtlichen Sonderwortschatz kennt, hilft die offizielle Sprachpolitik des Tudjman-Regimes kräftig nach: Wer in den staatlich kontrollierten Medien ein offiziell verfemtes Wort oder einen verfemten Laut herausbringt, riskiert Sanktionen. Dieses Sektierertum, an dem viele kroatische Intellektuelle heute leiden, kann manchmal auch komisch sein: Zum Beispiel im Kino, wo mittlerweile neue Filme, die aus Serbien kommen, mit kroatischen Untertiteln versehen werden. Als der erste Film dieser Art im Frühjahr seine Premiere in Zagreb hatte, lachten die Zuschauer auch an Stellen, die völlig ernst waren – immer dann, wenn die Übersetzung unverständlicher war als das Original ...

Recht absurd geht es seit 1992 in Bosnien-Herzegowina zu, wo bislang eine weitgehende Gleichberechtigung der östlichen (serbischen) und der westlichen (kroatischen) Variante geherrscht hatte und sprachliche Grenzen zwischen den drei Völkern schwer zu ziehen waren. Als der Krieg begann, haben sich die bosnischen Serben und herzegowinischen Kroaten zügig ihren nationalen Varianten zugewandt – und die Muslime vor die Alternative gestellt, sich entweder zur Sprache ihrer Kriegsgegner zu bekennen oder die bosnische Besonderheit durch die Behauptung einer „bosnischen Sprache“ zu unterstreichen. Doch die Substanz, aus der diese Sprache geschaffen werden könnte, ist sehr schwach, und das merkt man den Versuchen des führenden bosnischen Sprachwissenschaftlers Alija Isakovic an. Er kann in seinem bosnischen Wörterbuch zwar auf diverse türkische Lehnwörter verweisen, die in Kroatien und Serbien unbekannt sind. Aber eine „bosnische Grammatik“ enthält nichts, was nicht auch aus serbischen oder kroatischen Grammatiken bekannt wäre. Und Isakovic' Ausführungen zur bosnischen Phonetik wirken mindestens so komisch wie der kroatisch übersetzte serbische Film. Er klammert sich an den in Bosnien häufig vorkommenden Laut „h“, dem er nationalpsychologische Bedeutung zuspricht: „Worte mit ,h‘ haben eine Seele. Auch das Wort ,duhša‘ (Seele) hat ein ,h‘. [...] ,Lahka‘ (leicht) klingt leichter als die Form ,laka‘. Dieses ,h‘ entmaterialisiert unsere Assoziationen, die von unseren Instinkten und Emotionen abhängen. [...] Sowohl in der Volkssprache [...] als auch in den Turzismen soll das ,h‘ entgegen der Sprachregel benutzt werden.“

Die letzte Abspaltung mit ungewisser Zukunft ist das Montenegrinische. Der Philologe Vojislav Nikcevic hat seit Anfang der 90er-Jahre einige Bücher veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass die Montenegriner eine Sprache brauchten, die sich an den regionalen Gepflogenheiten orientiert. Und weil zu diesen Gepflogenheiten einige Zischlaute gehören, die es im Serbischen, Kroatischen und Bosnischen nicht gibt, hat er auch gleich noch drei neue Buchstaben eingeführt. So möchte Nikcevic das „Trauma“ wettmachen, das die Vereinbarung von 1850 der montenegrinischen Nation zugefügt habe. Denn der neuštokavische Dialekt, den Serben und Kroaten damals als gemeinsame Schriftsprache angenommen hatten, sei in Wirklichkeit Ureigentum der Montenegriner gewesen. So hätten „die Montenegriner ihre Sprache anderen gegeben“ und seien selbst „ohne sie geblieben“.

Wie ein Volk, das seine „Sprache anderen gegeben“ hat, gleichzeitig eine eigene Sprache haben kann, verrät Nikcevic nicht. Aber das macht auch nichts. Denn wenn Montenegro tatsächlich den Weg in die Unabhängigkeit wählen sollte, wird man Nikcevic dankbar für seine Vorarbeiten sein – und vor den größeren und kleineren Absurditäten seiner Arbeit die Augen verschließen.

Literatur: Miloš Okuka: „Eine Sprache – viele Erben. Sprachpolitik als Nationalisierungsinstrument in Ex-Jugoslawien“. Klagenfurt, Wieser Verlag 1998. 163 Seiten, 12 Tabellen. 38 DM

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