Zensur ist weder zumutbar noch möglich

■  Freispruch für Felix Somm: Langericht München kassiert das Urteil über den ehemaligen Chef von CompuServe Deutschland

Der Staatsanwalt am Landgericht München: „Das ist keine Kapitulation bei der Strafverfolgung im Internet“

Auch der Staatsanwalt plädierte für Freispruch, und die Kammer am Landgericht München 1 folgte seinem Argument. Es sei, so lautet der Tenor des gestern Nachmittag verkündeten Urteils, dem ehmaligen Geschäftsführer der deutschen Tochter des Onlinedienstes CompuServe weder „zumutbar“ noch „möglich“ gewesen, seinen Kunden den Zugang zu den Kinderpornos und gewaltverherrlichenden Videospielen zu sperren, für den ihn das Amtsgericht München im Mail 1998 zu einer Geldbuße von 100.000 Mark und zwei Jahren auf Bewährung verurteilt hatte. Die ganze Internetbranche reagierte erleichtert auf den Erfolg der Berufung. Sie hatte Somms Verurteilung einhellig als Skandal empfunden. Nicht nur CompuServe, sondern hunderte kleiner und großer Internetprovider standen vor Gericht.

Der Prozess fand weltweit Beachtung, der Streitfall selbst geht auf den November 1995 zurück. Ermittlungsbeamte aus München besuchten die Geschäftsräume von CompuServe und wiesen den Geschäftsführer mit mehr oder weniger deutlichen Worten darauf hin, er habe mit rechtlichen Folgen zu rechnen, wenn er nicht verhindere, dass seine Kunden gewisse Dokumente anschauen können. Die Polizisten mit taufrischer Interneterfahrung hatten in Newsgroups auch Kinderpornografie gefunden. Verschreckt sprach Somm in der amerikanischen Zentrale vor, und bat darum, sicherheitshalber doch gleich alle Foren von den hauseigenen Rechnern zu löschen, die sich schon im Titel mit menschlicher Sexualität beschäftigen. CompuServe entsprach dem Wunsch und war in der ganzen Netzwelt blamiert. Nicht nur, weil vor allem amerikanische Netizens kein Verständnis dafür aufbrachten, dass sich ein amerikanischer Onlinedienst vor deutschen Polizisten fürchtete, für Hohn und Spott sorgte vor allem die Vorstellung, auf diese Art und Weise im Internet aufräumen zu können. Selbstverständlich waren die gesperrten Newsgroups auch für CompuServe-Kunden weiterhin zugänglich, sie mussten sie nur von einem anderen Server holen.

Davon völlig unbeeindruckt, entschloss sich die Münchner Staatsanwaltschaft dennoch, Anklage gegen Felix Somm zu erheben. Sie hatte einen Sündenbock gefunden, der sich besonders wenig für diese Rolle eignete. Der Absolvent der Wirtschaftshochschule von St. Gallen war schon zu einer Zeit davon überzeugt, dass Computernetze das Schlüsselmedium der Zukunft sein werden, als in Deutschland kaum jemand das Wort „Internet“ kannte. Somm setzte denn auch zunächst nicht auf dieses, vom Pentagon für militärische Zwecke entwickelte System, sondern auf den Onlinedienst, den die amerikanische Steuerberatungsfirma H&R Block seit 1969 für ihre Kunden aufgebaut hatte. Das private Netz sollte ursprünglich nur die damals noch sündhaft teure Rechenzeit auf Großcomputern zu einigermaßen erschwinglichen Preisen vermitteln. Seit 1979 stand es allen Kunden offen, die bereit waren, die keineswegs geringen Nutzungsgebühren zu bezahlen, und wuchs unter dem Namen „CompuServe“ zu einem der ersten weltweit zugänglichen Computernetze heran. Es bot außer einer Mailadresse Börsenkurse, Wettervorhersagen und ein gutes Dutzend Nachrichtenagenturen an. Besonders beliebt waren die so genannten Foren: moderierte Diskussionsgruppen, die zu immer mehr Themen eingerichtet wurden.

Somm gründete 1991 die deutsche Tochtergesellschaft und versuchte das Angebot um deutsche Inhalte zu ergänzen. In wenigen Jahren brachte er es auf 300.000 deutsche Abonnenten, doch er hatte so wenig wie die Muttergesellschaft mit dem Boom des Internets gerechnet. Der avantgardistische Onlinedienst sah plötzlich steinalt aus. Um den Anschluss und die Kunden nicht ganz zu verlieren, öffnete CompuServe sein Netz zum Internet und – besonders verhängnisvoll für Somm – übernahm auch den größten Teil der Newsgroups aus dem Usenet auf seine Rechner. Von dort konnte man sie auch ohne Zugang zum Internet herunterladen.

Die Kunden blieben trotzdem weg, CompuServe schrieb rote Zahlen und wurde im September 1997 vom jüngeren, inzwischen aber erfolgreicheren Konkurrenten AOL aufgekauft. Der Onlinedienst der ersten Stunde wird unter diesem Dach nur der Kundenpflege wegen eher lieblos weitergeführt und spielte bis gestern allein in Deutschland noch immer eine unfreiwillige Vorreiterrolle auf dem juristischen Parkett. Ausgerechnet an CompuServe, einem Opfer des Internetbooms, hat das bayerische Justizministerium versucht, ein Exempel dafür zu statuieren, was Internetprovider tun dürfen und was nicht. Das Urteil des Amtsrichters stützte sich auf das ebenfalls 1997 verabschiedte Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG), das in seinem entscheidenden Paragraphen 5 „Diensteanbieter“ unter anderem dafür haftbar macht, was sie auf ihren Rechnern „zur Nutzung bereithalten“. Eine technisch wenig sinnvolle Unterscheidung, deren einziger erkennbarer Sinn darin besteht, das Usenet, den besonders freizügigen Teil des Internets, unter besondere Kontrolle zu stellen. Newsgroups werden typischerweise auf sehr vielen lokalen Servern zwischengespeichert, um im Sinne des IuKDG besonders leicht zugänglich zu sein. Noch vor Beginn des Prozesses in der ersten Instanz hatte das bayerische Staatsministerium gedroht, es werde in keinem Fall hinnehmen, wenn ein Gericht Provider von der Haftung für die dort verfügbaren Inhalte freistellt.

Wenigstens das Berufungsgericht hat sich davon nicht einschüchtern lassen. Allerdings gilt sein Urteil bislang nur für den Sonderfall eines Providers mit ausländischer Mutter. Erst die schriftliche Begründung wird zeigen, ob die ganze Branche aufatmen kann.

Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de