: Ein Bonbon für die grüne Basis
Die Grünen haben das Streiten verlernt. Von neuer Aufbruchstimmung war in Kassel nichts zu spüren ■ Aus Kassel Patrik Schwarz
Wenn der hessische Landtagsabgeordnete der Grünen, Tarek Al-Wazir, erklären will, warum seine Partei ein neues Grundsatzprogramm benötigt, erzählt er folgende Geschichte. Vor einiger Zeit, die Grünen waren in Hessen noch an der Regierung, empfing Al-Wazir eine Besuchergruppe im Wiesbadener Landtag. Der hessische Abgeordnete freute sich. Seine Gäste waren junge Bereitschaftspolizisten, und Al-Wazir war sich ihres Wohlwollens gewiss. Hatten doch die Grünen im Land erst vor kurzem bundesweit einmalige Ausbildungs- und Laufbahnverbesserungen für Polizisten durchgesetzt. Doch die Besucher begegneten dem Abgeordneten mit kaum verhohlener Feindseligkeit.
„Ich wunderte mich die ganze Zeit, warum die so aggressiv waren“, erinnert sich der Grüne. Im Programm seiner Partei, brach es schließlich aus den jungen Gästen heraus, werde die Auflösung der Bereitschaftspolizei verlangt. Einem ungläubigen Politiker legten sie ein rares Exemplar des einzigen Grundsatzprogramms auf den Tisch, das die Grünen seit ihrer Gründung vor zwanzig Jahren verabschiedet haben. Es stammt aus dem Jahr 1980, und ein unbedachter Kreisverband hatte es den Polizisten geschickt, als sie um Infos für ihren Landtagsbesuch nachsuchten. Al-Wazir schaudert noch heute: „Da stand ein Unsinn drin!“
Verhängnisvoller Zickzackkurs bei den Grünen
Um sich derartige Erfahrungen künftig zu ersparen, verbrachte der 28jährige Abgeordnete den größten Teil des vergangenen Wochenendes in der Zentralmensa der Gesamthochschule Kassel. Etwa 250 grüne Funktionäre und Basisvertreter berieten dort über ein neues Grundsatzprogramm. Bis 2001 will sich die Partei damit Zeit lassen. Der Kongress vom Wochenende war als Auftakt gedacht, mehrere Runden rhetorischen Ringelreihens sollen folgen.
Wohin der Aufbruch die Partei führen könnte, wusste in Kassel allerdings niemand so recht zu sagen. Am eindrücklichsten beschrieb der bündnisgrüne Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann die allgemeine Ratlosigkeit. Seit einem umjubelten Auftritt auf dem Bielefelder Kosovo-Parteitag gilt der 70jährige als gütiger Großvater der Partei. Tief über das Rednerpult gebeugt schilderte er am Samstag die Verirrungen der Grünen, als erzählte er die Geschichte von Hänsel und Gretel, die von ihrem Pfad abgekommen sind. „Sie lavieren. Manchmal lavieren sie nicht nur geschickt, sondern geradezu perfekt. Aber sie lavieren, und wie immer beim Lavieren ist das Ergebnis ein Zickzackkurs.“
Wie tief bei den Mitgliedern die Verstörung nach einem Jahr voller rot-grüner Pannen sitzt, zeigte sich auch daran, wie zahm die Basis mit den Prominenten umging. Während draußen der Schnee rieselte, schlug der Ministerriege, Andrea Fischer, Jürgen Trittin und Joschka Fischer, im Tagungssaal ungewohnte Wärme entgegen. „Normalerweise sind grüne Versammlungen laut und besserwisserisch“, sagt Al-Wazir, „die Krise der Partei war an der Ruhe und Nachdenklichkeit zu spüren.“
Der Strategiekongress entpuppte sich als Kuschelkonferenz. Weil auf dem Treffen keine Beschlüsse zu fassen waren, blieben den Teilnehmern auch die Einpeitscher der Macht erspart, die etwa auf Parteitagen die Delegierten hinter den jeweiligen Frontmänner zu sammeln suchen.
Doch kaum dem Zwang zur Gefolgschaft entgangen, offenbarten die Kongressbesucher eine seltsame Ziellosigkeit. Während die Parteispitze die Programmdebatte durchaus als ein „Bonbon für die Basis“ begreift, steht diese der neuen Freiheit zum Teil eher hilflos gegenüber. Ralf Fücks vom Vorstand der Böll-Stiftung glaubt, die Partei habe die Fähigkeit zur Generaldebatte verloren. Unter dem Burgfrieden, mit dem einst die Flügelkämpfe beigelegt wurden, habe sich programmatische Erstarrung breit gemacht. Im Vergleich dazu brauchte die CDU erst mehrere Legislaturperioden Helmut Kohl, ehe es mit ihr soweit war. Bei den Grünen hat offenbar schon das Streben nach der Macht zur Verkrustung geführt.
Jürgen Trittin erzählt dazu in Kassel die Episode aus seiner Zeit als Fraktionsvorsitzender im niedersächsischen Landtag. Drei der elf grünen Abgeordneten hätten sich damals um den Titel des umweltpolitischen Sprechers gestritten. Im Ergebnis gab es fortan eine atompolitische Sprecherin, eine naturschutzpolitische Sprecherin und einen Sprecher für technischen Umweltschutz.
Die Zukunftsthemen mit Showeffekt fehlen
Dezernentenwesen sei das, schimpft Trittin, und eine Ursache für den Niedergang des Ansehens der Grünen. Die Ökologie erscheine nicht mehr als zentraler Inhalt grüner Programmatik, sondern nur noch als Instrument.
Trittins Kollegin in NRW, Bärbel Höhn, teilt die Einschätzung. Die Partei müsse sich auf ihre alten Werte besinnen und sich gleichzeitig für die Veränderungen in der Gesellschaft öffnen. Ganz neu ist das Konzept nicht. Angela Merkel, die CDU-Generalsekretärin, verficht es mit nahezu denselben Worten für die Konservativen. Merkels Vorteil: Wenn die Christdemokraten sich unversehens für Schwule oder Alleinerziehende einsetzen, gerät die programmatische Öffnung zum Publicity-Coup. Wenn Höhn verstärkt auf Verbraucherschutz setzen will, hält sich der Showeffekt in engen Grenzen.
Auch Publikumsliebling Joschka Fischer – von der Regie geschickt bis zum letzten Kongresstag aufgespart – vermochte da nicht zu helfen. Der Auftritt des Außenministers verdeutlichte der Basis allenfalls, dass die Grenzen einer Regierungspartei zu eng sind für den großen programmatischen Wurf. Muss nicht endlich Schluss sein mit deutschen Waffenexporten, lautete eine Frage des Publikums. Bei Waffenexporten müsse die Bundesrepublik weiterhin ein „niedriges Profil zeigen“, rang Fischer sich ab – nur um sofort die eigene Wortwahl zu entschuldigen: „Ihr merkt, wie vorsichtig ich formuliere, um nicht morgen die Schlagzeilen zu dominieren.“
Bei seiner Rede dachte der Minister die Einwände halb Europas mit. Auf diese Weise brachte er selbst die für Grüne denkbar moderate Forderung nach einer Verfassungsdebatte in der EU nur verklausuliert heraus. So verstärkten seine Beiträge letztlich eher den Eindruck, den Grünen fehle es an Themen für die Zukunft. In Kassel merkte die Partei vor allem, dass sie aus dem Tritt geraten ist. Wie sie wieder Fuß fassen kann, wussten wohl weder die Basis noch die Prominenz.
Immerhin: Wie bei den großen Parteien kann man jetzt auch bei den Grünen solcherlei Kongresse für kleine Deals am Rande nutzen. Für Roland Klebe vom Kreisverband Miesbach zum Beispiel hat sich die Fahrt nach Kassel gelohnt. Der Kreisrat und gelernte Umweltinformatiker hoffte auf eine ruhige Minute mit Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen Amt. „Wir haben Probleme mit Elektrosmog bei uns“, erzählt er. Der Sendemast einer amerikanischen Radiostation verursacht in Klebes Nachbarschaft Ohrensausen, Schweißausbrüche und womöglich Schlimmeres. Die Amerikaner mögen, bitte schön, ihren Mast verlegen. Geschrieben hat Klebe schon an Volmer, dann in der Kaffeepause klappt es. „Im AA hat das nicht die höchste Priorität“, weiß Klebe nun. Aber immerhin hätte der Staatsminister kapiert, dass es sich um ein grünes Anliegen handelt. Mit diesem Ergebnis kann Roland Klebe sich in Miesbach sehen lassen: „Auch CSU-Wähler erwarten, dass wir bei unseren Oberen in Berlin vorstellig werden.“
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