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Kroatien hängt am Tropf

Präsident Tudjman ist todkrank. Neuwahlen sollen jetzt ohne seine Zustimmung stattfinden  ■   Aus Zagreb Tatjana Tagirov

Die Unklarheit über das tatsächliche Befinden des Staatschefs gibt im Lande Anlass zu manchen Spekulationen

Das Schicksal Kroatiens hängt von der Gesundheit eines Mannes ab: von der Franjo Tudjmans. Und um die steht es nicht gut. In einem gestern herausgegebenen ärztlichen Bulletin heißt es, der Zustand des Patienten habe sich über Nacht verschlechtert. Die Behandlung auf der Intensivstation sei entsprechend umgestellt worden. Noch am Wochenende hatten die behandelnden Ärzte von einer Stabilisierung gesprochen. Tudjman, der an einer Krebserkrankung im Magen-Darm-Bereich leidet, liegt seit dem 1. November in einer Zagreber Klinik und wurde bereits dreimal operiert.

Die Unklarheit über das tatsächliche Befinden des Staatchefs gibt im Lande Anlass zu manchen Spekulationen. Doch ein Gerücht hält sich besonders hartnäckig: Dass die Krankheit des Präsidenten auf die politische Lage zurückzuführen sei. Denn Kroatien steht vor einem harten Wahlkampf.

Laut einer aktuellen Umfrage der Agentur Puls, eines Mitglieds der renommierten Gallup International Association, würde die Anfang der Neunzigerjahre von Tudjman gegründete Regierungspartei, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ), zur Zeit erstmals keine Mehrheit mehr erhalten. Angesichts der Tatsache, dass die HDZ seit den ersten freien Wahlen 1990 ununterbrochen die Regierung bildete, ist allein das bemerkenswert.

Noch interessanter ist, dass die augenblickliche HDZ-Mehrheit im kroatischen Parlament, dem Sabor, gegen die Stimmen aller Oppositionsparteien unlängst ein Wahlgesetz verabschiedet hat, dass die Partei des Präsidenten in geradezu unverschämt offensichtlicher Weise übervorteilt. Jedoch: Auch das würde der HDZ einen Wechsel auf die Oppositionsbänke nicht ersparen, wenn jetzt gewählt würde.

Nach Angaben von Puls würde bereits ein Bündnis aus den beiden größten Oppositionsparteien – der exkommunistischen Sozialdemokratischen Partei (SDP) und der sozialliberalen HSLS ausreichen, um die zwischen 24 und 28 Prozent rangierende HDZ nach neun Jahren von der Macht zu vertreiben. Eine unmögliche Situation für die Partei, deren Führung sich ständig als Begründerin des unabhängigen Kroatiens feiert.

Trotz dieser Ausgangslage hatte Präsident und HDZ-Chef Tudjman Ende Oktober für den 22. Dezember Neuwahlen angesetzt. Nur: Dieser Termin dürfte kaum noch zu halten sein. Denn Tudjman unterzeichnete am Wochenende nicht den für Neuwahlen erforderlichen Erlass über die Auflösung des Parlaments. Laut Verfassung hätte er dafür bis Samstag um Mitternacht Zeit gehabt.

Doch der Termin für Neuwahlen, die jetzt vielleicht erst im Januar, spätestens aber bis zum 27. des Monats stattfinden müssen, ist nur ein Problem.

Denn was passiert, wenn der kranke Präsident in einer solchen Situation zurücktritt, amtsunfähig wird oder stirbt? Dann würde die Rolle des Staatsoberhaupts verfassungsgemäß dem Parlamentspräsidenten zufallen. Aber: Wenn das Parlament sich auflöst, dann ist auch diese Position unbesetzt. Deswegen hatte die Opposition unlängst beantragt, dass sich der Sabor erst am 27. November „für den Fall unvorhergesehener Ereignisse“ auflöst. Nach anfänglichem Widerstand schloss sich die HDZ dem Antrag an – nicht ohne die kroatische Öffentlichkeit darüber zu informieren, man sei optimistisch, was die Gesundheit des Präsidenten angeht.

Die kroatische Opposition rechnet offenbar damit, dass sie im Falle „unvorhergesehener Ereignisse“ gleich auch die Verfassung ändern könne – um in Zukunft das Staatsoberhaupt nicht mehr direkt von der Bevölkerung, sondern vom Parlament wählen zu lassen. Doch die Verfassung ist denkbar ungenau in der Definition der präsidentialen Amtsunfähigkeit. Nur das Verfassungsgericht kann darüber entscheiden. Dessen derzeitiger Präsident Jadranko Crnic hat bereits angekündigt, für den Fall der Fälle müsse ein Team aus unabhängigen Medizinern den Gesundheitszustand des Präsidenten beurteilen.

Weiter verkündete Crnic, Kroatien stünde in jedem Fall vor Neuwahlen –unabhängig davon, wann sich der Sabor auflöse. Der Präsident müsse diese Wahlen nur noch offiziell ausschreiben, und wenn nötig könne diese Aufgabe auch der Parlamentspräsident anstelle Tudjmans ausführen. Zudem würde dann dem Vorsitzenden des Sabor auch die Rolle der Präsidenten zufallen – mit der Auflage, binnen 60 Tagen Neuwahlen zum Parlament und zum höchsten Amt im Staate auszuschreiben.

Nur: Crnic vergaß zu erwähnen, dass dieser Tage auch das Mandat des Verfassungsgerichts abläuft. Seit Jahresbeginn wurden bereits acht neue Richter bestimmt – wie die Opposition meint, einzig von der Regierungspartei. Das aber widerspricht gültigem kroatischen Recht, weswegen die Opposition vor einigen Monaten vor dem Verfassungsgericht klagte.

Mit der rapiden Verschlechterung des Gesundheitszustands Tudjmans sieht die HDZ jetzt wohl doch die „unvorhergesehenen Ereignisse“ nahen. Am Wochenende leitete sie Verhandlungen mit den anderen Parteien ein, um einen Ausweg aus dem verfassungspolitischen Dilemma zu finden. Am Mittwoch soll das Parlament über eine gestern abend zwischen den Parteien abgesprochene Verfassungsänderung beraten, auf deren Grundlage Tudjman für vorübergehend amtsunfähig erklärt werden kann. So könnte der Weg für Neuwahlen doch noch freigemacht werden.

Derweil mehren sich in Kroatien Stimmen, die den 22. Dezember als Wahltag ganz ablehnen. Die katholische Kirche protestiert, weil der Termin zu nahe am Christfest läge. Menschenrechtsgruppen befürchten, zwei Tage vor dem Heiligen Abend hätten die meisten Diplomaten und ausländischen Beobachter das Land in Richtung Heimat verlassen. Wahlbetrug seitens der HDZ sei so Tor und Tür geöffnet.

Die eigentlichen politischen Themen – vor allem das von der HDZ durchgesetzte Wahlgesetz und die von der Regierungspartei gegen den Widerstand der Opposition festgelegte Verteilung der Wahlbezirke – sind bereits völlig in den Hintergrund getreten. Niemand redet mehr davon, dass etwa die Hauptstadt Zagreb nach wie vor in drei Stimmbezirke eingeteilt ist, von denen einer einige Zig Kilometer weit bis ins ländliche Slawonien reicht. Und auch die Tatsache, dass die „Diaspora“, also die nicht in Kroatien lebenden Kroaten von Bosnien bis nach Australien, wieder einen Sonderwahlstatus haben werden, ist nicht mehr Gegenstand der Diskussion.

Nun dreht sich alles um die Frage: Wie geht es Tudjman? Als hinge das Schicksal Kroatiens einzig von der Gesundheit eines Mannes ab. Übersetzung: rr

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