: Du bist das Trümmerfeld
60 Sekunden für das nächste Jahrtausend, diskursverachtend und fernsehgerecht: Alexander Kluge und Christoph Schlingensief luden ein zum „Internationalen Kameradschaftsabend“ in die Volksbühne ■ Von Christiane Kühl
Das Gedankenspiel ist so alt wie das verendende Jahrtausend: Angenommen, in ferner Zeit entdeckten Wissenschaftler die manifesten Überbleibsel unserer längst überlebten Zivilisation – was würden sie von uns denken? Apothekersohn Christoph Schlingensief will die Analyse nicht dem Zufall überlassen und der Zukunft schon gar nicht. Der Werkzeugkasten der Geschichte wird eigenhändig gefüllt.
Im Oktober begann er seine „Deutschlandsuche 99“, die Weimar, Ulm, Regensburg und andere stolze Provinzstädte mit prächtiger Wagner-Beschallung beschenkte, während der Künstler eine Anklage wegen unangemeldeter Demonstrationen, Skandierens rechtsradikaler Parolen, ein Bierglas, ein Klappmesser und andere deutsche Dinge mehr einheimste. 99 an der Zahl, die ihn in seiner These bestätigten: „Wenn man Deutschland zerstören würde und rekonstruieren, dann wäre das hochnotpeinlich.“
Peinlichkeiten sind Christoph Schlingensiefs Spezialität, an der Zerstörung arbeitet Deutschland seiner Auffassung nach ganz allein. Was nicht schlimm ist. „Trümmerfelder sind die Zukunft“, erklärt er mit Verweis auf den Potsdamer Platz und rief Montagabend den Hauptstädtern ein ermutigendes „Sie dürfen sich selbst als Trümmerfeld begreifen!“ entgegen. Auch das fiel nicht schwer. Zur Veranstaltung in der Volksbühne, die in Koproduktion mit Alexander Kluge für eine fünfstündige Sendung auf Vox am 10. 12. aufgezeichnet wurde, war eine illustre Reihe älterer Gäste aus Kunst und Politik eingeladen, fernsehgerechte, diskursverachtende Statements von je 60 Sekunden abzugeben. „Minuten, die wir mitnehmen möchten ins nächste Jahrtausend“, gefilmt im lindgrünen Regips- und Plexiglasbühnenbild, durch das Bernhard Schütz pöbelnd im Tarnanzug sprang, während Schlingensief Anweisungen übers Megafon brüllte.
Schon auf der Hamburger Station der Tour hatte Schlingensief für viele das Moment des theatralisch und moralisch Erlaubten überschritten, als er unter anderen Horst Mahler, einst bei der RAF und heute bei NPD-Parteitagen zu Gast, und dem Bubis-Grabschänder Meir Mendelssohn ein Podium zur Selbstdarstellung bot. In Berlin waren beide dabei, das Publikum jedoch mit Trillerpfeifen auf Mahlers „Wacht endlich auf!“-Rufe vorbeitet. Argumentativ war es das leider nicht. Aufgefordert, sich zwischen die Prominenten zu mischen und eigene Statements in die Kamera zu sprechen, kam niemand über das „Find' ich scheiße“-Level hinaus.
Nachdem Rainer Langhans („Man muss einmal sterben, um leben zu können“), seine Haremsbraut Jutta Winkelmann („Jeder ist gekommen, um sich selbst zu erfahren“), der Ex-Beuys-Mitarbeiter Johannes Stüttgen („Wir brauchen eine neue demokratische Kreditordnung“) vor die Kamera getreten waren, die Schauspielerin Käthe Reichel auf Parallelen des Dritten Reichs mit Rot-Grün verwiesen hatte („Wir gehen auf einen neuen Untergang zu“), Benjamin von Stuckrad-Barre sich seine Forderung nach dem Ende der Ironie mit Filzer (oder war es Lippenstift?) auf die Stirn geschrieben und der Ex-Neues Deutschland-Redakteur Ernst Schumacher feststellt hatte, er sei „in die Theaterfalle gegangen“, musste man leider davon ausgehen, dass die deutsche Linke vollends debil geworden ist. Schlingensief gab das Moderieren auf. Der Abend begann schon vollends zwischen Vor- und Hinterbühne zu zerbröseln, da erschien Regine Hildebrandt. Sie und Mahler diskutierten fortan unter sich. Berufsrethoriker, die fesselnder als alle anwesenden Künstler agierten und einem damit auch noch den Glauben ans Theater rauben wollten.
„Wähle dich selbst!“, hieß der Slogan der Chance 2000, „Moderiere selbst!“ die Aufforderung des Abends. Zuschauer warfen Stinkbomben, das Theater verteilte Energydrinks. Molly Luft zeigte die größten Titten Berlins, und Herr Fink von gleichnamiger Tanzschule Foxtrott, Tango und Walzer. „Die Linke schläft“, verriet im Bühnenschatten Alexander Kluge, der demnächst zur Ergänzung des Filmmaterials ausführliche Einzelinterviews führen wird, „alle meine Freunde machen Mittagschlaf.“ Ein disparater Abend zwischen Langeweile, Frustation und Entertainment. Konzeptkunst mit der Aufforderung zur politischen Interaktion, Soziologie und Ästhetik für die Archäologen der Gegenwart. „Unsere Hauptaufgabe ist das Sammeln“, so Schlingensief zur „Deutschlandsuche 99“. Dinge, 240 Minuten: „Die Information ist der Mensch.“
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