Ca. 36.122 Tage

■  „So alt wie das Jahrhundert“, woll? Doch interessieren deshalb bloß Erinnerungen? Eine sechsteilige WDR-Porträtreihe schon

Kamen in den Jahren nach dem Krieg tatsächlich nur noch die Alliierten, die Goldene Hochzeit, Kindeskinder und Infarkt?

Ungefähr 36.122 Tage ist unser Jahrhundert heute alt. Aber so alt wie unser Jahrhundert ist keiner der Porträtierten der gleichnamigen WDR-Reihe. Ein paar hundert Tage jünger oder älter sind sie alle. Doch wen interessiert's?

„Wenn ich 100 werde“, sagt eine Frau, Jahrgang 1901, „gehe ich weg. Es soll keiner mit mir feiern. Und ich weiß, dass es nicht mehr lange ist und dass ich gerne tot sein werde.“

Und ein Mann, Jahrgang 1900, macht jeden Tag einen Strich auf ein Blatt Papier, damit er weiß, wie alt er ist, wenn man ihn fragt. Er war Lehrer. Noch 1974 ist er Vater geworden, betet jeden Morgen und jeden Abend zum Heiligen Schutzengel („Aber mehr kann ich nicht machen, woll?“) und kommt erst nächsten Mittwoch eine halbe Stunde lang zu Wort. Die Frau von 1901 indes ist Journalistin, Raucherin, Frauenrechtlerin zwischen den Kriegen, Mutter eines behinderten Kindes im Dritten Reich. Sie schiebt sich schon heute Abend mit einem Gehwägelchen durch die Grünanlagen ihres Altenheims und sagt Sätze lapidar. Sätze wie: „Mir haben die Bücher sehr geholfen.“ – „Ich kann dumme Menschen nicht ausstehen.“ – „Und dann hat er sich erschossen.“ – Oder: „Es gefällt mir alles recht gut. Und ich spüre auch nicht so das Alter.“

Das ist fraglos faszinierend, dieses Alter, wie es aussieht, sich anhört, sich lohnt: Was haben diese Menschen noch außer ihrer Erinnerung, fragt man befangen. Doch der WDR-Filmreigen fragt nur, woran sie sich erinnern.

Doch, wie gesagt, wen interessiert's? Die Jungen nicht, die nur flausen und HipHop im Kopf und Rollerblades an den Füßen haben; die Jüngsten nicht, die ihren Fernsehabend mit Tinkywinkywinke beschließen; die Älteren nicht, denen all die Erzählungen von Opa, Oma, Onkel, Mutti, Vati und der Nachbarin, wie's früher war, schon oft genug kostbare Lebenszeit gestohlen haben; sogar die Alten, die selber nichts mehr haben außer ihrer Erinnerung, werden hier nur neue Anlässe für die ewig gleichen Geschichten finden.

Und haben die Alten denn wirklich nichts zu erzählen als ihre Erinnerungen, die sie durch ihr Leben begleitet haben und die ihnen, wieder- und wiedergekäut, längst abhanden gekommen sind? Hört denn, anders gefragt, die Erinnerung wirklich ungefähr im Jahr 1945 auf, wie es die WDR-Porträts suggerieren? Und zwar danach, nicht davor! Kamen nach dem Krieg tatsächlich nur noch die Alliierten, Goldene Hochzeit, Kindeskinder und Infarkt? Oder haben sich selbst die vier Filmer (Detlef Gumm, Birgit Quastenberg, Hans-Georg Ullrich & Jürgen Volkéry) gar nicht dafür interessiert, wie's war – in den 60ern, in den 70ern, in den 80ern, vorvorletztes Jahr oder gestern? Ist das die Quintessenz eines fast hundertjährigen Lebens: 50 Prozent des Daseins, 18.000 Tage also, 2.500 Wochen, 600 Monate und nicht der Rede wert? Oder ist das (hier zu Lande) auch die Quintessenz unseres Jahrhunderts?

So ähnlich jedenfalls steht's in den Geschichtsbüchern. Und so sind auch die Filmemacher offenbar zu sehr damit beschäftigt, hinter einen Satz wie „Mein Vater war Lokomotivführer und fuhr die Soldaten an die Front“ schnell Marschgetrommel und Archivbilder von der Weltkriegsfront zu kleben, als dass sie sich für ihre Gegenüber interessierten. Schließlich haben sie sich nicht einmal die Zeit genommen, den jahrhundertalten Mann aus Folge 2 ohne Zwischenschnitt seine steile Kellertreppe hinab- und hinansteigen zu lassen, obwohl (und weil) uns das vielleicht mehr über das Alter (und das Jahrhundert) erzählt als seine vielen kindischen Gesänge.

In Folge 3 sind es dann bereits zwei Frauen und also über 70.000 Tage und Nächte, die in eine halbe Stunde Fernsehen passen sollen. Doch nachdem man denen zugehört hat, ist das sogar vorstellbar.

Christoph Schultheis

„So alt wie das Jahrhundert“ sind bis zum Jahrhundertende immer mittwochs um 22 Uhr im WDR: Else Luther (heute), Theodor Holzapfel (1. 12.), Maria Tönnishoff und Else Wind (8. 12.), Änne Schwarzbeck (15. 12.), Albert Strohtmann (22. 12.) sowie Nora und Irene zum Winkel (30. 12.)