: Die Kamera ist das Monster
Minimalistischer Horror, Schrecken ohne Bild, Website-Mythos – nach dem unglaublichen Hype in den Staaten kommt „Blair Witch Project“ auch bei uns ins Kino. Huckleberry Finn im Hexenexperiment ■ Von Georg Seeßlen
Statt eines Dogmas formuliert man in Amerika lieber eine Legende. Oder sogar Legenden in der Legende in der Legende. So zum Beispiel wie die Geschichte der Filmstudenten Heather Donahue, Joshua Leonard und Michael Williams, die sich am 21. Oktober 1994 in die Black Forest Hills von Maryland aufmachen, um einen Dokumentarfilm über die „Blair Hexe“ zu drehen. Die soll vor zweihundert Jahren hier Kinder verschleppt haben. Manche Leute glauben heute noch an ihren Geist, andere – na ja. Die drei befragen also die Menschen, machen sich auf in den Wald und bleiben spurlos verschwunden. Ein Jahr später findet man ihre Aufnahmen, die die letzten Tage und Stunden der jungen Filmemacher dokumentieren: das Grauen, das ihnen begegnet, die inneren Konflikte der kleinen Gruppe, ihre Angst und ihre Einsamkeit. Und das Ende?
Eine tolle, eine schreckliche Geschichte. Sie handelt nicht nur vom morbiden Spaß an Mystery, Hexen-Verschwörungen und magischem Reisen, sondern auch vom Jungsein, vom Suchen und Gefundenwerden, vom Angsthaben und Alleinsein. Vom wesentlichen also, sieht man einmal von der Liebe ab. Im Juni 1998 entsteht die erste Website zum „Blair Witch Project“, auf der immer neue Informationen über das Unternehmen und sein Scheitern erschienen. Man konnte die Tagebucheintragungen der Filmleute lesen, die Fundstücke und das Fotomaterial studieren und schließlich Interviews mit Freunden und Verwandten der Verschwundenen.
Das nächste Kapitel der Erfolgsgeschichte von „ Blair Witch Project“ beginnt auf dem Sundance Filmfestival, wo der Verleih Artisan den Film für 1,1 Millionen Dollar von dem Team Ed Sanchez, Dan Myrick, Gregg Hale, Robin Cowie und Michael Monello erwirbt, die gemeinsam Haxan Films bilden (was verdächtig nach einer Amerikanisierung des Titels „Häxan“ von Benjamin Christensen klingt). Das ist schon eines der kleinen Wunder, angesichts der nicht mehr als 60.000 Dollar Produktionskosten. Der Film wird noch einmal optisch bearbeitet und erst nach einem halben Jahr gestartet. Zehn Millionen Dollar werden noch einmal in die Werbung gesteckt, so heißt es, während auch die Foren im Internet weiter wachsen, wo sich das Blair Witch Project mittlerweile verselbstständigt hat. Wo der Hype aufhört und wo der Kult anfängt, das war schon vor dem Start nicht mehr genau zu sagen. Schon kamen Parodien wie „The Blair Hype Project“ heraus (die Geschichte dreier Teenager, die sich verlaufen, als sie versuchen, eine Kinovorstellung von „Blair Witch Project“ zu finden, die noch nicht ausverkauft ist).
Bevor „Blair Witch Project“ nach Europa kommt, hat er bereits mehr als 150 Millionen Dollar eingespielt.
Natürlich war der Mehrzahl der Fans schnell klar, dass es sich um eine Fiktion handelte, aber so einfach war die Grenze zwischen Spiel, Erzählung und Realität denn doch nicht mehr zu ziehen. Es bewegte sich alles nach hinten und nach vorne zugleich: Neben den Quick-Time-Videos, Bildern und Texten waren in der Website auch Outtakes zu sehen, die bereits auf weitere Reisen in die Welt der Blair-Hexe schließen ließen, deren Mythologie man in Fake-Dokumenten und Bildern ausbreitete. Ein langer „Countdown“ mit immer neuen Informationen begleitete die heiße Phase bis zum Start, währenddessen bereits die Ideen zu verschiedenen Sequels und, vor allem, Prequels diskutiert wurden. Das „Blair Witch Project“ war ein Projekt der Fans geworden, die sich als Mitglieder und Mitautoren fühlen durften.
Aber auch der intelligenteste Hype kann kein Produkt vermitteln, das uns über seine eigene Vermittlung hinaus nichts zu sagen hat, jedenfalls noch nicht. Worin also liegt der Erfolg von „Blair Witch Project“ begründet?
Zum einen ist es ein Film, der eine, wenngleich virtuelle, Bewegung auslöst; die Teilnehmer gehören einer Gemeinschaft an, und die ist, anders als bei der „Rocky Horror Picture Show“, nicht um ein synthetisches Werk gruppiert, sondern um ein offenes System. Während man sich bei „Star Wars“ gerade mal als Lookalike-Schauspieler und in Karnevalsstimmung in einer vollkommen fixierten Ikonographie präsentieren darf (und sich, wenn die Sache selber vorbei ist, reichlich doof vorkommen kann), ist man beim „Blair Witch Project“ Partner und Co-Autor, Teil des Codes und Teil der Decodierung.
„Blair Witch Project“ ist der „Evil Dead“ der Neunzigerjahre, die längste Nase, die der Horror seiner Gesellschaft und seinen Fans drehen kann. Auf eine ganz ähnliche Prämisse reagiert der Film jedoch anders: Statt in Gore-Slapstick umzuschlagen, sieht man so realistisch als möglich die fundamentalen Dinge der Angst: die Dunkelheit, die Einsamkeit, das nicht lesbare Zeichen, die gestaltlose Bedrohung, der unerfüllte Mythos. Bei „Blair Witch“ wird einem nicht schlecht von dem, was man sieht, sondern von dem, was man nicht sieht; und nicht von dem, was sich vor der Kamera bewegt, sondern davon, wie sich die Kamera selbst bewegt. Und „Blair Witch Project“ erzeugt jenen Moment, von dem andere Horrorfilme nur erzählen, nämlich den, an dem ein Spiel mit dem Schrecken zum wirklichen Schrecken wird.
„Blair Witch Project“ ist das amerikanische Pendant eines Dogma-Films, also auch ein Protest gegen eine Filmindustrie, die in ihrer eigenen Illusionsmaschine versteinert und dem Realen gegenüber blind wird. Nur geht es hier nicht um ein Spiel der künstlichen Beschränkung, sondern die Beschränkung sucht sich die Erzählweise, und diese wird zum Teil der Story. Die Regel „Nicht spielen!“ wird hier auf eine sehr eigenwillige Weise erzeugt. Bei den Dreharbeiten wurden die Schauspieler ständig bei einem Real-Time-Spiel beobachtet und mit unvorhergesehenen Geschehnissen konfrontiert in einer Produktionsform, die die Regisseure „Method Filmmaking“ nannten. Die Schauspieler erhielten einen zweitägigen Einführungskurs mit den Daten zu den Umständen der realen Hexe, dann wurden sie mit den Videokameras (ein Hi-8-Camcorder, eine 16-mm-Schwarzweiß-Kamera, um genau zu sein) losgeschickt, improvisierten mit Menschen, die sie trafen, wurden sodann aber isoliert und ohne Orientierungshilfe tiefer in den Wald gelockt, und sie wussten nur, dass etwas geschehen würde, nicht aber, was ihnen widerfahren würde.
Das bizarre Spiel geht auf Gregg Hale zurück, der bei den Special Forces ein ganz ähnliches Überlebens- und Angsttraining absolviert hatte; ein Stück realer Sadismus, der tief in der Mythologie verankert ist, ein amerikanischer Initiationsritus. „Ich wollte sie mental und physisch an die Grenze der Belastbarkeit treiben, sie in die Ecke drängen. Ich wollte eine regelrecht anarchische Reaktion bei den Schauspielern hervorrufen.“ Eine perfekte Mischung aus Schauspieler-Workshop, Pfadfinderspiel und Psychoterror.
Da trifft sich, vielleicht zum ersten Mal, und nach den Schulmassakern dieses Jahres besonders frappierend, die Kultur der Nerds und ihrer Medienspiele mit der Kultur der Extremsportler; der höchste Grad an Virtualisierung und der höchste Grad an Feier allerkonkretester, wenn auch sinnloser Wirklichkeit. „Blair Witch Project“ ist die Huckleberry-Finn-Version für das Millennium und zugleich seine Negation.
Der Film hört nicht mehr im Kino auf und fängt dort nicht an. Er ist Reality-TV, das nicht zum Alltag, sondern zum Event geworden ist, zu einer neuen Form des Sehens. Die „Ikone“, die sich zu dem Film gebildet hat, ist nicht ein Monster, kein düsterer Schatten und kein irritierendes Licht, sondern der Blick in ein Auge (das Auge von Heather Donahue), von dem sich eine Träne löst. Was dieses Auge sieht, ist nicht mehr Thema des Filmes, das Auge selbst ist es. Als wäre das Genre nun bald bei jener Urszene Buñuels wieder angelangt, in der eine Rasierklinge durch ein Auge fährt. In Thomas Harris' „Das Schweigen der Lämmer“, dem Schreckensbild der Achtzigerjahre, sagt Clarice Starling: „Über diese sonderbare Welt, diese Hälfte der Welt, die nun im Dunkel liegt, muss ich ein Ding jagen, das von Tränen lebt.“ In „Blair Witch Project“ hat dieses Ding einen Namen. Man nennt es Kamera, und es ist das technische Medium unserer Lust und unseres Zwangs zu sehen.
Wir erleben nicht das Schreckliche, sondern den Schrecken, nicht das Bild, sondern den Blick, nicht den magischen Ort, sondern das Gefühl des getting lost, oder simpler: eine Landschaft, die sich nicht mehr mit dem Mittel einer Landkarte „lesen“ lässt (die ohnehin verloren geht). Und den Zusammenbruch der Gruppe. Wir erleben unter anderem die Demontage einer womöglichen starken Frau, die Neuformulierung der screaming lady: Wir hören Heather schließlich nur noch entsetzt wimmern, wie sehr sie Angst habe, die Augen zu schließen. Aber sie, die Regisseurin, hat ihre Passion auf sich genommen, ohne darauf zu achten, ob ihre Begleiter ihre Passion auch teilen. „Blair Witch Project“ ist zu einem großen Teil auch ein Gender- und Machtspiel. Heather ist zunächst die Grunge-Version der taffen News-Lady, die ihrerseits ein amerikanischer Mythos geworden ist, Josh Leonard ist der Kameramann, der coole Slacker, während der Tonmann Mik Williams eher der besorgte Typ ist, der zumindest am Anfang am meisten Angst um das Equipment hat, das die drei nur geliehen haben, das große, ein bisschen dicke Kind, das durch seine Furzerei die anderen um die Nachtruhe bringt. So fragmentarisch, so zerfetzt der Film, so nahe und ganz ist er, was die Personen anbelangt. Und es geht um amerikanische Archetypen; die Regisseurin, Heather Donahue, ist das Bild der tatkräftigen Frau, „ehrgeizig, klug und besessen von der Idee, ihr Projekt zu verwirklichen. Koste es, was es wolle“ (Donahue). Und in dieser Funktion führt sie die beiden Männer als Leiterin des Teams in das Grauen. Die wagen an verschiedenen Stellen zwar eine Form der Revolte, werden aber – so schreibt es der Rahmen des Spiels, so schreiben es die psychischen Dispositionen der Darsteller vor – immer wieder von ihr weitergetrieben, bis sie die eigentlich schwache ist. Heather heult. Statt im Walde zu pfeifen, singen sie „America, America“, nachdem Heather sie daran erinnert hat: „This is America!“ (Hier gibt es keine Barbarei.) Is this America? „Blair Witch Project“ ist also nicht nur ein Medienspiel, ein gruppendynamisches Experiment, Huckleberry Finns post-yuppie/ white trash/Slacker-Wiedergeburt als Filmstudent mit Creditkarte-Leasing-Kamera, Gretel und ihre zwei Hansel verliefen sich im Wald, es erzählt auch etwas von den Dingen, wie sie sind. Mit oder ohne Hexen. Von den Geschlechtern und einer Form der Geschlechtslosigkeit, von Ehrgeiz und Technik. Und von den Schreien der Kinder in einem Wald, der vielleicht Amerika ist.
„Blair Witch Project“. Regie: Daniel Myrick, Edward Sanchez. Mit: Heather Donahue, Joshua Leonard, Michael Williams u.a. USA 1998, 87 Min.
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