■ Mit Estlands WTO-Beitritt auf Du und Du
: Zölle rauf!

Stockholm (taz) –Estland hat sich seit dem Ende der Sowjetunion zu einem Musterknaben in Sachen Freihandel gemausert: Bis vor kurzem gab es so gut wie keine Zölle. Nun ist der kleine baltische Staat der Welthandelsorganisation (WTO) beigetreten – gerade noch rechtzeitig vor Beginn von deren nächster Verhandlungsrunde am 30. November in Seattle. Die – absurde – Folge: Die bestehenden minimalen Zölle für landwirtschaftliche Produkte müssen kräftig angehoben werden: auf runde 25 Prozent. Ein Ausnahmefall für die WTO, die normalerweise Zollsenkungen vorschreibt.

Der Landwirtschaft Estlands hat die äußerst liberale Wirtschaftspolitik, die die Planwirtschaft aus den Zeiten der Sowjetunion abgelöst hat, hart zu schaffen gemacht. In den Supermärkten gibt es mehr Tiefkühlware und Konserven aus Deutschland oder Finnland als einheimische Produkte – der Import subventionierter Nahrungsmittel aus der Europäischen Union lohnt sich.

„Dafür, dass wir das jüngste WTO-Mitglied sind, können wir vermutlich mit Recht ganz selbstbewusst auftreten“, freut sich Clyde Kull, Staatssekretär im Handelsministerium, schon auf Seattle. Wobei er sich eher darauf einstellen müsste, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Denn einerseits kommen die niedrigen Zölle der Forderung der USA und vieler Schwellen- und Entwicklungsländer nahe. Andererseits jedoch ist Estland in vieler Hinsicht eine Art europäisches Dritte-Welt-Land, an dessen Beispiel deutlich wird, wie einst funktionsfähige Teile der Volkswirtschaft zerschlagen werden, wenn der Markt nicht geschützt wird, bis er konkurrenzfähig ist.

Zwar sind es in Estland nicht Kinderarbeit und Gewerkschaftsverbote, die Billigproduktion ermöglichen und damit Investoren anlocken, sondern niedrige Lohn- und Arbeitsschutzniveaus. Die aber werden als konkurrenzverbessernde Vorteile betrachtet und sollen nicht aus der Hand gegeben werden – obwohl sie von den Gewerkschaften in den EU-Ländern massiv kritisiert werden.

Zwar bemerkte Frankreichs Handelsminister Christian Sautter kürzlich zur EU-Verhandlungsposition in Seattle: „Die Bürger sollen im Zentrum der neuen WTO-Runde stehen, und die Ärmsten sollen den größten Nutzen aus ihr ziehen.“ Man braucht den Kontinent gar nicht gen Süden zu verlassen: Mehr als schöne Worte sind das auch für die Bewohner eines Landes an Europas Peripherie bislang nicht.

Reinhard Wolff