Goodbye Paul

Dank für Deine Höflichkeit und Coolness. Dank für Deine Bücher. Ein persönlicher Abschied von Paul Bowles  ■   Von Florian Vetsch

Wenigstens hat sich seine Angst nicht bestätigt, verlassen in einer nächtlichen Stunde zu sterben

Das letzte Mal sah ich Paul Bowles am Abend des 26. Juli 1999 in Tanger. Hassan II., der König, der Marokko fast vierzig Jahre lang regiert hatte, war am Vortag in Rabat in Anwesenheit von zwei Millionen Menschen beigesetzt worden, sein Sohn Mohammed VI. seit zwei Tagen im Amt. Die Stadt, das ganze Land war von der Staatstrauer noch wie paralysiert.

An jenem Abend hielten sich Abdelouahaid Boulaich, seit zwanzig Jahren Bowles' Fahrer, Leibwächter, Koch, Masseur, Rechnungsführer et cetera, und Cherie Nutting, seine Leibfotografin, in dem bescheidenen Apartment im Imueble Itesa auf, in dem der Exilamerikaner seit über vierzig Jahren wohnte. Beide bewunderten die frischen Henna-Tattoos, die sich meine Frau und unsere Töchter nachmittags von einer Marokkanerin hatten machen lassen. Paul konnten wir nur davon erzählen, sehen konnte er die arabesken roten Hautmuster nicht mehr, denn er hatte in seinen zwei letzten Lebensjahren das Augenlicht in zunehmendem Ausmaß verloren, nahm die Außenwelt nur noch in bewegten Schatten wahr.

Ich unterhielt mich mit ihm über das „Garten“-Projekt, die anstehende Erstausgabe seines Theaterstücks „The Garden“. Später stieß Claude Thomas, Bowles' distinguierte französische Übersetzerin, dazu. Irgendwann versuchten alle im Chaos der Wohnung die Originalausgabe von Bowles' Langgedicht „Next to Nothing“, das Ira Cohen 1975 in Katmandu auf Reispapier gedruckt hatte, zu finden. Vergeblich. Schließlich nahmen wir an, dass es gestohlen worden sei. Keine abwegige Vermutung, denn während der Zeit, in der sich Bowles' Gesundheit langsam, aber stetig verschlechtert hatte, war es des öfteren vorgekommen, dass Besucher in einem unbeobachteten Augenblick Gegenstände aus der Wohnung entwendet hatten. Für Ruchlose war die Situation zu verführerisch: der Hausherr vorwiegend bettlägerig, Abdelouahaid mitunter beschäftigt, das Wohnzimmer mit dem selbst sommers über betriebenen Kaminfeuer im schummrigen Halbdunkel, das Studio mit Blick auf die weiße Stadt unbeaufsichtigt und dann diese Konstellation von zum Teil längst vergriffenen Büchern ... Wir verfluchten die frechen Räuber.

Natürlich kam auch die politische Situation zur Sprache. Bowles hoffte auf Stabilität, Kontinuität und soziale Verbesserungen, auf die intellektuelle Ader des jungen Herrschers, darauf, dass er sich im Unterschied zu seinem Vater für die in den letzten Jahren völlig heruntergekommene Hafenstadt Tanger vermehrt einsetzen würde.

So verflog der Abend im Nu. Beim Abschied lachte Paul, als er die zarten, schmalen Kinderhände spürte. Ich spielte auf die Floskel an, die er immer anwendete, wenn man ihn nach der Begrüßung fragte, wie es ihm gehe: „Always the same.“ Ich wünschte ihm, dass er immer derselbe bleiben möge.

Die schwere Müdigkeit, die ihn in diesem Sommer manchmal am hellichten Tag angekommen war, hatte ich verdrängt. Selbst wenn ich wusste, dass Paul nicht mehr so leben konnte, wie er es gerne getan hätte, wünschte ich mir doch, dass er unendlich lange leben würde: da bleiben würde, auf dem von einer fein gewobenen Hasira gesäumten Lager, das so viele Berühmtheiten und noch mehr Unbekannte frequentiert hatten; die Fäden in der Hand halten würde für so viele musikalische und literarische Projekte; seinen Kiff pur – „Kif they say does mean delight“ – mit der Zigarettenspitze rauchen und seine brillanten, von einer verblüffenden Gedächtniskraft getragenen Unterhaltungen führen würde.

Doch dem sollte nicht so sein. Am 18. November, dem Tag der marokkanischen Unabhängigkeit, starb er morgens um halb neun im italienischen Hospital von Tanger. Nicht allein. Abdelouahaid war bei ihm. Wenigstens hatte sich seine Angst nicht bestätigt, dass er zu einer verlassenen nächtlichen Stunde sterben müsse, unfähig, um Hilfe zu rufen, was der einzige Grund dafür war, dass sich der Zivilisationskritiker noch im letzten Lebensjahr ein Telefon angeschafft hatte.

An jenem Morgen erlosch ein reiches Leben, das nun ganz zum 20. Jahrhundert gehört, dem blutigsten der Weltgeschichte. Weshalb nicht die psychische und physische Grausamkeit, die viele von Bowles' suspenseträchtigen Geschichten durchherrscht, als adäquaten Ausdruck dieses Jahrhunderts lesen? „Für uns: haie, blech, brackiges wasser. / Acht krankheiten kommen bei nacht, / wenn der skorpion an der zimmerdecke klebt. / Für uns: aufgerissene münder, stacheldraht, schorf, / die behaarten blumen der taranteln / und das bleibend blinde auge / der zeit, frostig in der luft. // In brocken fällt der wind / von den bergpässen herab. / Wir müssen schreien ohne unterlass – / wer stehen bleibt, ist verloren“, hatte er 1938 in Guatemala geschrieben.

Über viele Jahrzehnte prägte Nomadentum sein Leben, auch wenn die Fixpunkte seines Orbits, zuerst New York, dann Tanger, definiert waren. Weite Strecken seines Welterfolgs „Der Himmel über der Wüste“ („The Sheltering Sky“) bestanden aus spontanen Notaten tagtäglicher Eindrücke unterwegs in Andalusien, Marokko und Algerien. Eine Methode, die wesentlich zur atmosphärischen Dichte des Romans beitrug. Später, nach dem Tod seiner Gattin, der Schriftstellerin Jane Bowles (1917 bis 1973), schöpfte er primär aus der Erinnerung und der Imagination. Weshalb aber hatte es ihm gerade Tanger angetan?

1931 war er auf den Rat von Gertrude Stein nach Tanger gekommen. In ihrer Kulturen verbindenden Lage an der Straße von Gibraltar und in der labyrinthischen Architektur ihrer Medina sah er etwas Archetypisches. „Ich genieße den Gedanken, in der Nacht im Schlaf von Zauberei, die ihre Tunnel überall hingräbt, von tausenden Sendern und tausenden unwissenden Empfängern umgeben zu sein. Verwünschungen werden ausgestoßen, Gifte gehen ihre Wege; Seelen verlieren sich, frei von parasitären Pseudo-Bewusstseinsebenen, die in den Schlupfwinkeln des Gehirns lauern. / In den meisten Nächten schlagen draußen die Trommeln. Ich wache nie davon auf; ich höre die Trommeln und baue sie in meine Träume ein, wie die nächtlichen Rufe der Muezzine“, schrieb er in seiner Autobiografie „Without Stopping“ (1972). Dennoch beklagte er mitunter die Explosionen der einstmals kleinen, anmutigen Hafenstadt zum heutigen Moloch von über 600.000 Einwohnern, beklagte den zunehmenden Einfluss der westlichen Zivilisation, die weltweite Gleichschaltung, den grassierenden Verlust ursprünglicher fremdkultureller Elemente. Und schließlich wurde die Frage, weshalb er in Tanger blieb, obsolet, denn weshalb sollte ein Mann in seinem Alter noch umziehen?

Dass Bowles aber, trotz seines intensiven Lebenswandels, so alt wurde, verdankt sich zu einem großen Teil Abdelouahaid Boulaich, der wusste, wie er Paul lang leben machte. Dazu gehörte, dass er, obschon der Greis nur ungern seine Matratzengruft verließ – „I hate to move, it's my bad leg“ –, mit ihm jeden Morgen ein paar Schritte machte, diesen Sommer jeweils vor dem Golf-Club, der in der Nähe des Tierfriedhofs liegt, dessen verwunschene Atmosphäre Bowles liebte.

Einmal trafen wir ihn dort, als uns Rachel Muyal, die viele Jahre lang in Tanger die Libraire des Colonnes energisch und erfolgreich geführt hatte, hinfuhr, um im Club den Lunch einzunehmen. Wir fuhren auf den Schlagbaum vor der Club-Einfahrt zu und sahen zu unserer Überraschung Abdelouahaid, fragten uns, was er hier im alten Kolonialistenpart wohl treibe, stiegen vor der Barriere aus und sahen erst jetzt, dass er mit Paul unterwegs war. Der saß so unscheinbar auf seinem Klappsessel, zirka 200 Meter von Boulaichs Renault entfernt – sein „walk“ an diesem Morgen –, dass wir den Meister des Verschwindens, der um seine Person nie viel Aufhebens machte, einfach übersehen hatten.

Rachel Muyal preschte gleich los, um ihn herzlich zu begrüßen. Auf die beiden zuschlendernd, sah ich, dass Paul kurz seinen weißen Hut abnahm. „Yes, it's a Panama“, meinte er auf ihre Frage, und da schien noch einmal sein sicheres Wissen um Stil und Eleganz auf, jenes Dandytum, das er so lange gelebt hatte – einmal soll er neben acht weiteren Koffern einen mit über vierzig Krawatten in die Wüste (sic!) mitgenommen haben.

Ob ich abends vorbeischauen würde, des „Garten“-Projekts wegen. Selbst in dieser Zeit also blieb Bowles nicht stehen. Stets bemühte er sich zu helfen, stellte geduldig Informationen zur Verfügung, die nur in seinem Kopf zu finden waren. Wer wüsste denn sonst schon, dass eine deff eine flache quadratische Trommel aus dem Süden Marokkos ist, die vor dem Spielen benetzt wird, dass Durbar Bathis indische Räucherstäbchen sind, die an Markttagen abgebrannt werden, oder der Ahmeilou ein perkussiver Tanz aus dem Atlasgebirge?

Danke, Paul, für alles, für deine einzigartige Gastfreundschaft, an der sich viele versündigt haben in den letzten Jahren, „Bluthunde“ hast du sie einmal echauffiert genannt, jene Boulevardjournaille, die nur aufkreuzte, um an deinem Legendenfleisch zu saugen. Dank für dein außerordentliches Leben, Dank für das Geheimnis, das du darstellst – wer alle die Nachrufe dieser Tage liest, begegnet einem immer anderen Paul Bowles. Dank für deine Zurückhaltung, Höflichkeit, deine überlegene Absichtslosigkeit. Dank für deine Coolness, neben der, wie mir Cherie versicherte, Mick Jagger bei einem Besuch wie ein Schuljunge wirkte. Und Dank vor allem für dein Werk: deine abgründigen Bücher und deine wundervollen Kompositionen, die von der Sehnsucht, die dich um die Welt und in die Fremde nach Tanger trieb, reiner noch künden als deine Literatur.

In Deinem „Song of an Old Woman“ (1946), der Vertonung eines Texts von Jane, singt eine unerfüllte alte Frau: „Oh, I'm sad for never knowing courage / And I'm sad for the stilling of fear.“ In dieses Lied brauchtest du nicht einzustimmen, denn du hattest den Mut, auf deine innersten Impulse zu hören: 1929, als du dich klammheimlich nach Europa überschifftest, 1931, als du ehrfürchtig bei Gertrude Stein anklopftest; und du hattest den Mut, den Stift anzusetzen und nicht mehr abzusetzen, bis ein Werk da war, das dein zweites und jetzt dein einziges Leben geworden ist.

I bid you farewell, goodbye Paul. Unser Autor schrieb die Bücher: „Desultory Correspondence/ Sporadische Korrespondenz. An Interview with Paul Bowles on Gertrude Stein/Ein Interview mit Paul Bowles über Gertrude Stein“. Memory Cage Editions. Zürich 1997 „Antäisches Kraftfeld – Paul Bowles in Tanger“. Sabon Verlag, St. Gallen 1998