Was man an der Schule über Sex wissen sollte

■ Was tun, wenn der Sexualunterricht antiquiert ist? Das Schulprojekt LoveTalks soll in Berlin die Sprachlosigkeit über Sexualität, Lust und Angst bei Jugendlichen, Eltern und Lehrern überwinden

Ist es schlimm, wenn ich mit 13 Jahren noch keinen Freund habe? Kann man durchs Küssen Aids bekommen? Ist mein Busen zu groß, ist mein Penis zu klein? Bin ich eine Prostituierte, wenn ich einen Verehrer habe? Fragen von Jugendlichen zum Thema Sex.

Fragen, die häufig nicht zufriedenstellend beantwortet werden, weil die Kommunikation darüber schwierig ist. Die beste Freundin kann die Fragen vielleicht nur unzulänglich beantworten, die Eltern fragen die Jugendlichen nicht gerne übers Vögeln und die erste Liebe aus, und in der Schule gibt es nur ab und an mal Sexualkundeunterricht. Und der ist nicht selten antiquiert.

In Berlin soll sich das jetzt ändern. Jugendliche, Eltern und Lehrer sollen stärker ins Gespräch kommen – mithilfe von „LoveTalks“, gefördert von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Berliner Schulverwaltung.

„Liebesgespräche“ werden derzeit an fünf Berliner Schulen durchgeführt und sollen die Sprachlosigkeit beim Thema Sexualität überwinden: „Es geht nicht primär um Aufklärung und Wissensvermittlung, sondern um Kommunikation“, sagt Koordinatorin Agnes Raucamp.

Sexualität beschränke sich bei vielen Berliner Jugendlichen auf das Verwenden von Begriffen wie „schwule Sau“ und „alte Votze“, hat Raucamp beobachtet, die selbst Lehrerin für Geschichte und Französisch ist. Sie würden oft sehr lieblos miteinander umgehen. Angst sei dabei ein dominierender Faktor: „Sexualität ist eine Quelle für ganz viele Nöte und Unterdrückung.“

In den „LoveTalks“-Schulen werden die Kinder und Jugendlichen in den einzelnen Klassen anonym befragt, welche Themen sie gerne beantwortet haben wollen. „Die meisten Fragen drehen sich um das erste Mal und um Verhütung“, hat Raucamp beobachtet. Immer wieder angesprochen würden auch das Körpergefühl und Gewalterfahrungen.

Die Fragen nimmt das „LoveTalks“-Team auf, bestehend aus einer externen LehrerIn und einer ÄrztIn. Diese laden dann interessierte Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen an fünf Nachmittagen oder Abenden ein und planen mit ihnen, ein „Sexualerziehungsprojekt“ für die einzelnen Klassen zu entwerfen. Als Leitlinie dienen die Fragebögen.

SchülerInnen können allerdings nur mitmachen, wenn sie mindestens 15 Jahre alt sind. „Wenn die Jugendlichen gerade mitten in der Pubertät sind, dann ist es schwierig für sie, eine abstrakte Gesprächsebene zu finden“, begründet Raucamp die etwas drakonische Maßnahme, die bei vielen Eltern bei der Präsentation des Projekts auf Missfallen gestoßen ist. Wenn ein 12-Jähriger gerade seinen ersten Samenerguss gehabt hat, könne er nur schwierig in einem offenen Gespräch darüber reden. Die Altersbeschränkung sei ein Erfahrungswert aus Österreich, wo LoveTalks schon seit zehn Jahren erfolgreich an Schulen läuft.

An der der Fritz-Karsen-Gesamtschule im Problembezirk Neukölln, an der Raucamp LoveTalks moderiert, gibt es erste Erfolge: In sieben Klassen soll es in den nächsten Wochen Sexualprojekte für alle SchülerInnen geben. Zum Beispiel werden von der gesamten Klasse Sketche zum Thema „Anmache“ und „Neinsagen“ eingeübt und lesbisch-schwule Jugendgruppen eingeladen. Eine Hebamme und eine Gynäkologin sollen ebenfalls kommen und über ihre Berufe und Erfahrungen reden.

In Raucamps Runde machen vier Lehrer und zwölf Eltern mit. „Es war schwierig, Lehrer zu gewinnen, denn diese haben sehr viel zu tun“, gibt die Moderatorin zu. Die Eltern seien jedoch sehr offen. Bei den Gesprächen seien zwei türkische Väter dabei. „Das ist ein großer Erfolg“, freut sich Raucamp. Unterschiede im Diskussionsverhalten oder in der Themenwahl habe es zwischen Türken und Deutschen nicht gegeben. In den Diskussionsrunden sei es um Konsum und Sex, Sprache und Sex und vor allen Dingen um Aids gegangen. So simulierten die Teilnehmer einen Elternabend, auf dem eine Mutter bekannt gab, dass ihr Kind HIV-positiv sei. Lehrer und Eltern mussten bei diesem Selbsterfahrungsspiel sehr stark ihre eigenen Vorurteile und die damit verbundenden Ängste hinterfragen, hat Raucamp beobachtet. Sie ist begeistert: „LoveTalks schafft auf dem sensiblen Gebiet der Sexualerziehung die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn die Fähigkeit zum Dialog ist die grundlegende Dimension der Sexualpädagogik.“ Julia Naumann

Schulen, die Interesse an LoveTalks haben, können sich an OPUS Regionalbüro Berlin, Agnes Raucamp, Blissestr. 22, 10713 Berlin, Telefon und Fax (0 30) 82 70 91 65, wenden.