Vom Personalmangel

Schade ums Talent: Claudia Brier verhebt sich mit „From Russia With Love“ auf Kampnagel  ■ Von Ralf Poerschke

Ein Sommertag am See oder so: Jens Kraßnig, Eva Löbau, Marlis Reinhold und Vivien Schnepel lümmeln sich auf dem Bootssteg, sie schmusen und necken sich, sie angeln und spielen Federball und springen ins „Wasser“, um sich im Trockenschwimmen zu üben. Wohl zehn Minuten geht das so, junge Menschen genießen sich selbst, dazu einlullende elektronische Musik. Hieraus soll sogleich ein Historiendrama erwachsen, aus dem Badetag ein Reichstag werden? –

Ein Blick auf die Besetzungsliste schürt weitere Zweifel: Dem Schillerschen Helden sind lediglich drei Nebenfiguren an die Seite gestellt, von denen man zumal zwei überhaupt nicht benötigt, um die Handlung begreiflich zu machen. Dass dem Publikum eine Klassikerdemontage mit angegliederter zeitgemäßer Neudeutung à la Nicolas Stemann bevorsteht, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Denn das Stück, obwohl von Schiller, fällt nicht unter Allgemeinbildung, und außerdem hat es der Autor längst nicht fertig bekommen vor seinem Tod, wenngleich bis zu seinem Ausgang hinlänglich skizziert. Dieser Demetrius wird nur ganz selten gespielt, und wenn, dann dreht es sich meistens um Schillers Geschichtsverständnis, das sich auf dem Sterbelager in düster-blutigem Pessimismus zeigt.

Also: Ein russisches Findelkind, aufgewachsen im Kloster und hernach aufgenommen in einem polnischen Fürstenhaus, war nach einem Mord aus Eifersucht bereits dem Henker geweiht. Im letzten Moment identifiziert ihn eine Halskette als Demetrius, den Sohn Iwan des Schrecklichen, der totgeglaubt war, ermordet von Boris Godunow, welcher sich mit List den Zarenthron zu Moskau erobert hatte. Demetrius bleibt nicht nur am Leben, sondern erlangt volles Selbstbewusstsein als rechtmäßiger Herrscher Russlands. Einem Großteil der Polen dünkt das als rechter Anlass, einen Krieg vom Zaune zu brechen, und so kommt es, dass der Ausländer Demetrius mit dem polnischen Heer gen Moskau zieht. Dem tyrannischen Boris Godunow laufen Armee und Volk davon, er begeht Selbstmord; Demetrius triumphiert und verspricht Reformen.

Doch auf dem Höhepunkt des Erfolges erfährt er, dass er einem Betrug aufsaß und gar nicht der Iwanowitsch ist. So wird er selber zum Betrüger und klammert sich weiter an die Macht. Seine Mutter spielt das Spiel widerwillig mit; als sie aber öffentlich schwören soll, dass es sich wirklich um ihren Sohn handelt, schweigt sie. Der falsche Demetrius wird erschlagen – was einen weiteren Glücksritter nicht davon abhält, sich seinerseits als Iwanowitsch auszugeben, und Schiller schließt die Tragödie bitter, „indem (...) gleichsam das Alte von neuem beginnt“.

Claudia Brier, die ihre Diplominszenierung des Studiengangs Schauspieltheater-Regie auf Kampnagel – nach einem 60er-Jahre-James-Bond-Abenteuer – From Russia With Love nannte, hat mehr Hoffnung: Nach Demetrius' Tod stellt sie zurück auf Anfang, zu ebenjenem planschseligen Sommertag, und endet mit einer Textpassage zwischen Demetrius und seiner aus Ruhmsucht verlassenen Jugendliebe Lodoiska, die bei der wegweisenden Demetrius-Inszenierung von Hansgünther Heyme anno 1982 ganz an den Beginn rutschte. Dieser Schluss – eine Art zweite Chance – ist klug und kühn, aber gleichzeitig lässt er das, was die rund 90 Minuten zuvor passierte, recht schal erscheinen. Das war nämlich im Großen und Ganzen nicht viel mehr als der Versuch, mit nur vier Akteuren und möglichst wenigen Schiller-Worten die Geschichte noch halbwegs plausibel nachzuerzählen. Mit ausreichend Ironie funktioniert das sogar, allein bleiben dabei die Figuren auf der Strecke, die ja aus Personalmangel von den Figuren selbst gespielt werden müssen. Und so erreicht auch Jens Kraßnig als Demetrius nicht die nötige Fallhöhe, mit der jede Inszenierung dieses Dramenfragments zwingend steht und fällt.

Das ist schade, denn die Schauspieler geben zweifelsohne ihr Bestes, und es ist auch nicht so, dass Claudia Brier nicht fünf oder sechs wirklich verblüffende Regieeinfälle gehabt hätte. Die 25-Jährige besitzt ganz klar Talent, aber dieses träte bei der Handhabung weniger komplexer Stoffe mit Sicherheit weitaus stärker zu Tage.